Morgenandacht
Danke, Gott, für die Stimme!
Das Zungenbein aus der Kebara-Höhle
15.07.2015 06:35

Bei einem Besuch in Jerusalem habe ich sehr gestaunt über einen winzigen Gegenstand. Er ist ungefähr zwei Zentimeter groß und gebogen wie ein U. Ein bisschen sieht er aus wie ein kleines Hufeisen, aber nicht aus Metall. Es ist ein menschlicher Knochen. In Jerusalem gibt es natürlich jede Menge Beeindruckendes zu sehen, gerade für religiöse Menschen – Synagogen, Kirchen, Moscheen. Und doch ist dieser kleine Knochen für mich der Höhepunkt. Dass Menschen religiös sein können, dazu braucht es Fähigkeiten und Grundlagen. Und dieser Knochen ist eine davon.

 

Es ist ein Zungenbein. In diesem Fall von einem Neandertaler, sechzigtausend Jahre alt, entdeckt in der Höhle in Kebara in Nord-Israel. Es ist das einzige Neandertaler-Zungenbein, das bis heute gefunden wurde[i]. Das allein hat mich schon beeindruckt. Was ich sehe, ist einmalig. Deshalb ist er auch ein Glanzstück der Ausstellung im Israel-Museum, die „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ heißt[ii].

 

Der kleine Knochen im großen, beleuchteten Glaskasten ist unserem eigenen Homo sapiens-Zungenbein sehr ähnlich. Bei den Skeletten, die im Biologieunterricht zur Anschauung gezeigt werden, ist es meist gar nicht vorhanden. Weil das Zungenbein als einziger menschlicher Knochen nicht an einem anderen Knochen ansetzt, sondern nur mit Bändern und Muskeln verbunden ist. So ist es beweglich. Es trägt zwischen Unterkiefer und Kehlkopf das Gewicht der Zunge. Nur so kann man sprechen. Und deshalb nimmt man durch diesen einzigartigen fossilen Fund an: Unser menschlicher Vetter, der Neandertaler, konnte wohl auch sprechen.[iii]

 

Auch Tiere können kommunizieren und Informationen teilen. Doch der sprechende Mensch kann viel mehr. Durch die Sprache können wir Menschen Symbole teilen, Ideen, Kultur, Kunst, Mythen. Wir tauschen uns mit Sprache über Dinge aus, die man nicht sehen kann, über Vergangenheit und Zukunft, über Phantasien. Man kann eigene Erinnerungen aufbewahren und die einer Gruppe weitererzählen. Durch Sprache können Menschen Religion und Glauben leben. Mit Worten beten wir zu Gott – und wenn es nur ein einziges ist wie „Hilf!“. Ob der Neandertaler das auch schon getan hat? Das verrät der kleine Knochen nicht.  Aber staunen lässt er mich, wie etwas so Kleines so Großes ermöglicht.

 

Deshalb werde ich heute genau lauschen, welche menschlichen Stimmen ich zu hören kriege. Wenigstens ab und zu werde ich heute darauf hören. Schon der Klang kann schön sein – eine helle Kinderstimme oder die sonore Stimme eines Radiosprechers. Alles nicht möglich ohne diesen kleinen Hufeisen-Knochen.

 

Ich werde auch darauf hören, was jemand sagt. Schließlich steht in den biblischen Büchern die Zunge für die gesamte Lebensart eines Menschen. Was ein Mensch redet, ist Ausdruck seines Charakters. Jesus von Nazareth war überzeugt: Nicht das, was in einen Menschen hineingeht, macht ihn unrein. Sondern unrein macht, was herauskommt, wenn er Böses spricht[iv]. Genauso wie gute Worte heilsam sein können. Vielleicht höre ich ein solches gutes Wort heute. Schon allein, wenn mich jemand mit Namen anredet und ich spüre: ich bin gemeint.

 

Ich selbst kann so sprechen. Zu meinen Mitmenschen – und auch zu Gott. Heute das: Danke, Gott, für Deine Schöpfung, die auf den faszinierenden Wegen der Evolution so etwas Wunderbares hervorgebracht hat wie das Zungenbein!

 

[ii] http://www.imj.org.il/exhibitions/2015/history/en/ (auf der Internet-Seite ist auch ein Foto des Zungenbeins, unter „Cognitive Revolution“). Das Zungenbein gehört nicht dem Israel-Museum, sondern ist eine Leihgabe der Universität Tel Aviv.

[iii] Süddeutsche Zeitung, 23.12.2013

[iv] Mk 7, 1-23