Hat es noch Sinn, sich um „die“ Wahrheit zu bemühen? Nach ihr zu suchen. Sie zu destillieren aus dem unüberschaubar komplexen Angebot von Überzeugungen, die wahr sein wollen.
Hat Wahrheitssuche noch Sinn, in Zeiten wo „jeder seine eigene Wahrheit“ hat? Erst recht, wo fake news ihr Unwesen treiben. Oft kommt es mir aussichtslos vor, sich immer noch um Wahrheit zu bemühen.
Und dann musste ich als Zeuge aussagen vor Gericht und ich spüre, die Sache mit der Wahrheit ist kein Pappenstiel. Es lohnt sich, sich um sie bemühen, weil sie Leben bestimmt.
Ich habe gespürt: Als Zeuge vor Gericht wird die Suche nach der Wahrheit sofort bedeutsam. Die Sorge zu lügen, oder sich falsch oder nur unvollständig zu erinnern, erhöht die Temperatur. Es wird heiß, wenn es um Wahrheit geht.
Im Alltag sagt man gern mal was dahin. Ungeschützt. Vorschnell. Halbwahr. Als Zeuge bekommt jedes Wort Gewicht. Ich stehe für mein Wort. Es soll und möge wahr sein. Ein Zeuge hat Verantwortung für die Wahrheit, weil Zeugenwort wirkt.
Im Strafprozess kann es einen Verdächtigen zum Täter machen. Oder entlasten. Zwischen Strafe und Freiheit entscheiden.
Es tut gut zu merken: Worte bedeuten etwas und haben Gewicht. Ich fürchte, im Alltag macht man manchmal zu viele Worte, bewegt viel Luft oder schwätzt. Selbst wenn sie nicht gelogen sind. Viele Worte sind zu oberflächlich, um etwas zu geben. Ich glaube es täte gut, öfter zu reden wie Zeugen und zu stehen für das, was wir sagen. Auch durchs Tun.
Jesus hat jedenfalls gemeint: Zeuge der Wahrheit ist man nicht nur beim Reden, sondern überhaupt. "Zeuge sein" könne ein Lebenskonzept sein, meinte er. Ein humaner Lebensentwurf, wie man sinnvoll leben kann.
Jesus hat das vorgelebt. Er wollte Gott und seiner bedingungslosen Wahrheit Stimme und Gestalt geben: Gott ist ein liebevoller Vater, der will, dass allen Menschen geholfen wird. Und ich finde, Jesus war sehr über-zeugend als Gottes Zeuge. Menschen sind wieder gesund geworden und konnten leben. Als sie selbst. Echt. Aufrecht. Wahrhaft lebendig.
Jesus stand ein für die Wahrheit, aufrecht bis in seinen eigenen Prozess.
Vor ein paar Wochen ist mir das sehr eindrücklich nahe gegangen, bei einer Aufführung des Oratoriums „Golgota“ von Frank Martin, einem geistlichen Musikwerk des 20. Jahrhunderts.
Im Oratorium kommt die Stelle, wo sich nur noch Pilatus und sein Angeklagter Jesus gegenüberstehen:
Pilatus fragt: „So bist Du doch ein König?“
Und gleichermaßen zart und doch unbezwingbar fest antwortet Jesus: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren, dass zeugen ich soll für die Wahrheit. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“
Wie eine Kurzformel für das Christsein kommt mir das vor: Die Geschichte dieses Aufrechten zu hören und sie ins eigene Leben zu transformieren. So gut man das kann.
Die aussichtslos scheinende Suche nach der Wahrheit nicht aufgeben. Reden und schreiben, als wäre man vor Gericht.
Und entschiede über Leben, das eigene und das von anderen.
Als Wissenschaftler unbestechlich forschen.
Als Journalist unangenehme Wahrheiten nicht verbrämen und verschweigen.
Und wenn Wahrheit ein Lebenskonzept ist: Sie wahrhaftig aussprechen.
‚Wahrheit‘ bedeutet dann auch, auf der Suche zu bleiben, was wahres Leben sein kann. Für mich selbst, aber auch für andere. Denn es gibt am Ende kein wahres Leben nur für mich, wenn es auf Kosten von anderen geht und das Leben der anderen meinetwegen falsch bleibt.
"Ihr seid meine Zeugen". Für mich hat Jesus gemeint: Wenn ich als Mensch sinnvoll leben will, brauche ich etwas, wofür ich stehen kann. Dann werde ich etwas bewirken. Gut tun, anderen Menschen, anderen Geschöpfen, der Schöpfung. Und: Wenn man für seinen Glauben wahrhaftig einsteht: Das gibt jedem Menschen in der Nachfolge Jesu auch etwas Königliches.