Morgenandacht
Gemeinfrei via Unsplash/ Hush Naidoo Jade Photography
Barmherzigkeit
Morgenandacht von Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx
12.09.2023 06:35

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Die Sendung zum Nachlesen: 

„Das Absurde, das Erbarmungswürdige, das Rührende, das Furchterregende, das Komische, das Egoistische, das unmaskiert in mein Leben einbricht“. Die preisgekrönte Autorin Helga Schubert pflegt seit Jahren ihren Mann. In ihrem jüngsten Buch „Der heutige Tag“ erzählt sie  von seiner Demenz und ihrer Überforderung,– aber auch von Liebe  und Barmherzigkeit im  täglichen Miteinander.

„Ich gehe ins Badezimmer, fülle seinen Zahnputzbecher mit warmem Wasser, und ein paar Tropfen Zahnputzwasser ,spüle sein Gebiss, gehe damit in sein Zimmer, setze mich auf seine Bettkante, er rückt mühsam etwas zur Seite, damit ich es auf der Matratze weicher habe, ich gebe ihm den Zahnputzbecher, und zum Ausspucken der Mundspülung einen leeren, großen Yoghurtbecher. Ich schlage sein Deckbett zurück, leere den Restbeutel des Blasenkatheters, fühle, ob die Windel nass ist. Ich liebe ihn sehr“, schreibt Helga Schubert. 

Die Theologin Hildegund Keul meint „Wunden verbinden, „Sie sind ein Ort der Kommunikation.“ Verletzungen erzeugen eine Öffnung, ermöglichen intensiven Austausch, ja Intimität. Ich denke an den barmherzigen Samariter, der den Verwundeten am Wegrand entdeckt und seine Reise unterbricht. Der dem Fremden die Wunden reinigt und desinfiziert, ihn auf sein Reittier setzt, ihn in ein Gasthaus zur Pflege bringt und dafür auch noch zahlt. Hildegund Keul spricht vom Verletzungsparadox: Man setzt sich für das Wohl eines anderen ein und macht sich dabei selbst verletzlicher. Aber die Verletzlichkeit macht die Liebe nur größer. Wie bei Helga Schubert, beim barmherzigen Samariter und bei der Unbekannten, die Jesus noch kurz vor seiner Hinrichtung die Füße salbt – mit kostbarem Parfüm Öl. Lebensverlust erzeugt Lebensgewinn, wenn man bereit ist, sich selbst zu verschwenden.

Aber das fühlt sich nicht immer so an. Helga Schubert schreibt: „Heute lehnte ich mich erschöpft nach wenigem Schlaf an die Wand unserer Haustür“, schreibt Helga Schubert,“ als die Pflegeschwester an den Abfalleimer ging, und sagte: „Wenn ich in dreizehn Jahren - denn so groß ist der Altersunterschied zwischen meinem Mann und mir - auch so schwach bin wie er jetzt , wer wird mir dann helfen, mich waschen, anziehen, mir Frühstück machen, wer wird den Abwasch und die Wäsche waschen, wer wird mir die Medikamente einordnen, wer wird mich trösten und es mir geduldig erklären, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, dem Gespräch zu folgen? Dann kann ich hier in dem großen Garten nicht mehr bleiben“. „Wir sind doch da, sagte die Schwester. Und in dem Moment wurde mir klar, dass sie in 13 Jahren erst Mitte 40 sein wird und hier noch im Pflegedienst arbeiten kann und das auch vorhat“.

Doch die Situation der Pflege insgesamt ist erschütternd. Auf Kante genäht. Und ungerecht. Viel wird auf dem Rücken der Angehörigen ausgetragen. Das ganze Pflegesystem steht kurz vor dem Zusammenbruch. Was die Angehörigen für einen Heimplatz zuzahlen, ist oft gar nicht mehr aufzubringen. Und der Zuschlag für pflegende Angehörige hat sich bei der letzten Reform nur um 5 Prozent erhöht- das ist weniger als der Inflationsausgleich.

Es dauert unendlich lang, das zu ändern. Man braucht Verbündete, Experten, Engagierte in den Parteien, Durchsetzungskraft. Aber alte und kranke Menschen haben keine Zeit, auf Gerechtigkeit zu warten. Bleibt die Barmherzigkeit. Die kann ich allein üben. Jederzeit. Es geht nur darum, mich zu öffnen. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erfahren“ hat Jesus gesagt.  Doch die Pflegewirklichkeit sieht anders aus: Wir erleben eine gedankenlose Unbarmherzigkeit und eine unverhüllte Zweckrationalität, schrieb mir ein Freund. Da steht mehr auf dem Spiel als den meisten bewusst ist: Denn mit der Barmherzigkeit verschwindet auch das Glück. Und die Seligkeit. Nicht nur die der anderen, auch die eigene. Dabei braucht es nicht viel, um barmherzig zu sein. Es geht nur um eins:  den anderen zu sehen wie mich selbst.

Es gilt das gesprochene Wort.