„Weißt du noch…?“
Ich bin vergesslich. Ich vergesse Termine. Ich vergesse, dass ich mich mit jemandem verabredet habe. Ich vergesse, dass ich jemandem etwas versprochen habe. Ich vergesse, dass ich mir etwas vorgenommen habe. Ich vergesse Aufträge. So geht das nun schon seit mehr als sechzig Jahren. Es ergaben sich auch immer weder berufliche Nachteile durch meine Vergesslichkeit. Erst mit der elektronischen Datenverarbeitung vergesse ich nicht mehr so viel: Der Internet-Kalender hilft mir, Termine wahrzunehmen, Verabredungen einzuhalten, Aufträge zu erfüllen.
Jedoch ist etwas anderes hinzugekommen. Ich vergesse Ereignisse und Erlebnisse. Wenn meine Frau mich fragt: „Weißt du noch…?“ muss ich oftmals passen. Ich weiß es nicht mehr. Es ist aus einem Gedächtnis ausradiert, als wäre das Erlebte nie geschehen. Sicher, das bereitet ihr und mir Sorgen. Der Neurologe, den ich deshalb konsultierte, beruhigte mich. Er ließ mich eine Uhr aufzeichnen, auf der die Zeiger auf zehn vor zwei stehen. Es gelang mir mühelos. Solange man das kann, versicherte mir der Arzt, ist man im Kopf nicht krank. Seitdem zeichne ich hin und wieder diese Uhr und kann mich so vergewissern: Meine Vergesslichkeit gehört einfach zu mir und ist keine Krankheit. Sie belastet mich trotzdem.
Leben ist Erinnerung
Denn Leben ist immer auch Erinnerung. Wo Erinnerung schwindet, mindert sich das Leben. Und das ist ein unwillkommener Hinweis darauf, dass auch ich einmal vergessen sein werde. In hundert Jahren, vielleicht schon viel eher, wird keiner mehr von meiner Existenz wissen. Sowie mir wird es fast allen Menschen gehen, ausgenommen die Geistesgrößen, die wir verehren und mit denen wir unsere Kalender beschriften: große Künstler, große Dichter, große Komponisten. Deren Zahl ist allerdings so klein, dass sie statistisch nicht zu erfassen ist. Ich jedenfalls gehöre nicht dazu. Da ist es tröstlich, dass die Bibel berichtet, kein Mensch sei bei Gott vergessen. Dort steht geschrieben: „Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“ Was hier dem biblischen Israel verheißen ist, gilt für alle Menschen. Jesus Christus erklärt dazu: „Verkauft man nicht fünf Sperlinge für zwei Groschen? Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen.“
Die Opfer der Geschichte dürfen nicht vergessen werden
Dennoch ist vor Gott nicht einer von ihnen vergessen: Dieser Spruch hat mich tief berührt, als ich ihn auf einem Denkmal für Behinderte las, die im sogenannten Dritten Reich als, so hieß es, „lebensunwertes Leben“ ermordet wurden. Keiner von ihnen ist vergessen. Auch jeder Jude, jeder Sinti und Roma, jeder Kommunist, jeder Homosexueller und jede andere missliebige Person, die in den KZs ermordet wurde, ist bleibt im Gedächtnis Gottes. Unvergessen ist auch jeder einzelne, der den Kriegen zum Opfer fiel. Und wir tun auch selber gut daran, nicht zu vergessen, was Menschen anderen Menschen antaten und antun. Eine jüdische Weisheit sagt: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Das ist zunächst eine innerjüdische Ermahnung an die Opfer. Sie dürfen nicht vergessen, dass sie oft Opfer waren oder sind. Mit anderen Worten gilt sie aber auch für die Täter. Denn das Vergessenwollen führt zur Wiederholung. Die antisemitischen Übergriffe in unseren Tagen beweisen es auf grauenhafte Weise. Es ist wohl wahr, ich bin vergesslich. Aber die Opfer darf ich nicht vergessen. Die Täter auch nicht. Gott vergisst beide nicht. Und mich auch nicht. Und das ist gut.