Vergesslichkeit ist heute bei vielen Menschen ein Thema. Manchmal ist es ein Zeichen einer Erkrankung, manchmal ist es auch sehr menschlich im Stress des Alltags Dinge aus den Augen zu verlieren.
Pfarrer Beck spricht in seinem Wort zum Sonntag eher das Vergessen innerhalb von Institutionen an, die sich nicht mehr ihres Ursprungs erinnern wollen, also Traditionen bewusst ausblenden. Der katholische Priester hält seiner eigenen Kirche dabei den Spiegel vor. Denn nur mühsam habe es die römische Kirche in einem vierjährigen Prozess und in einer gerade abgeschlossenen Weltsammlung geschafft, gemeinsames Beraten und Entscheiden auf mehr Schultern zu verteilen als nur auf die päpstlichen.
Beck erkennt in dem Lernprozess seiner Kirche einen Fortschritt gegenüber manchen demokratischen Gesellschaften, die seit einiger Zeit in Gefahr sind, ihre Wurzeln zu vergessen und zum Beispiel die Meinung von Andersdenkenden zu unterbinden.
Sendetext nachlesen:
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer,
"Mist, das hab ich vergessen." Wieder was vergessen. Das ist menschlich, allzu menschlich. Da habe ich Namen von alten Bekannten nicht parat. Oder ich merke bei dem, was Jugendliche in der Schule lernen: Ah, das habe ich auch mal gelernt. Aber leider habe ich es wieder vergessen. Das eigene Vergessen kann lästig sein. Manchmal gehört es zu einer Demenzerkrankung. Manchmal verlieren wir auch so den Überblick. Und zugleich gibt es ein gnädiges Vergessen, wenn sich andere nicht an das erinnern, was ich schon mal vertreten oder gemacht habe. Aber es gibt auch ein kollektives Vergessen. Wenn etwa vergessen wird, wie sehr wir in unserem Land auf die Hilfe anderer angewiesen waren.
Auch in meiner Kirche und ihren katholischen Traditionen gibt es ein Vergessen. – Ich sehe schon viele Freunde lachen. Da werden einige jetzt einwenden: Was? Die katholische Kirche? Die kannst Du vielleicht vergessen. Aber ansonsten heben die doch alles auf und bauen Tradition auf Tradition. Denen täte es mal ganz gut, wenn sie auch mal Dinge verabschieden und vergessen könnten! – Klar, ich weiß schon. Aber auch in der Kirche gibt es tatsächlich ein bedauerliches Vergessen. Das gilt z.B. für lange bewährte, vielfältige Formen, in denen die Gemeinden der ersten Jahrhunderte gemeinsam beraten und die Belange der Gemeinschaft entschieden haben. Das gilt für Formen des gemeinsamen Beratens und Entscheidens in Klöstern. Das gilt auch für das Bewusstsein dafür, dass alle Menschen mit ihren Gaben und ihrer Würde Wichtiges beizutragen haben – nicht nur Priester und Bischöfe. Im Miteinander von Menschen gibt es auch in der katholischen Kirche viele Dinge, die leider in Vergessenheit geraten sind. Sie müssen derzeit mühselig wieder ins Gedächtnis gerufen und neu gelernt werden. Auf diesen Weg hat sich die katholische Kirche in den letzten Wochen bei ihrer Weltversammlung, der "Weltsynode", eingelassen und sie sucht nach den Formen gemeinsamen Beratens – und Entscheidens! –, Formen, die leider als Kultur des Miteinanders in Vergessenheit geraten sind. Fertig ist sie mit dieser Suche sicher noch nicht.
Ich kann schon verstehen, wenn viele auf diese Kirche mit ihren Traditionen auf der einen und mit ihrer Vergesslichkeit auf der anderen Seite mit Skepsis schauen. Aber ich sage auch: Täuschen Sie sich nicht darüber, wie schnell auch in anderen Bereichen grundlegende Errungenschaften einfach vergessen werden: Wenn etwa in vielen westlichen Ländern der große Wert demokratischer Strukturen vergessen wird. Wenn auch in unserem Land vergessen wird, wie miserabel und beengend das Leben in den Diktaturen unserer jüngeren Geschichte war. Wenn vergessen wird, wie schnell der Schutz von Minderheiten und Andersdenkenden in unserem Land weggewischt wurde – von denen, die behaupten, sie wären die Stimme der einfachen Leute.
Was meine Kirche derzeit erst wieder allmählich lernen und wiederentdecken muss, in dem Bemühen um Mitgestaltung durch alle Menschen, in einer Kultur des Miteinanders und in synodalen Strukturen, das findet sich als Herausforderung auch in anderen Teilen des gesellschaftlichen Lebens.
Zu dieser Kultur der Mitbestimmung gehört nicht nur, dass jeder und jede die Möglichkeit bekommt, seine und ihre Position einzubringen. Es gehört auch dazu, dass ich es für möglich halte, dass andere Menschen mir etwas zu sagen haben könnten. Wer sich erinnert, der ist dankbar für die Meinung der Anderen! Denn auch das wäre eine Erinnerung wert: dass jeder und jede von uns schon häufiger falsch gelegen hat. Dass ich kleinlaut eingestehen musste: Da hast du selbst falsch gelegen!
So ein Gedächtnis, so eine Erinnerung wünsche ich uns. Denn wer sich erinnert, auch schon falsch gelegen zu haben, der schreit nicht rum und ist froh, wenn möglichst viele gemeinsam überlegen.
Ich wünsche ihnen – und mir – gute Erinnerung!
Norddeutscher Rundfunk (NDR)
Redaktion: Sabine Pinkenburg
Katholischer Senderbeauftragter für Das Wort zum Sonntag für den NDR
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