Playmobil an der Krippe

Am Sonntagmorgen

Gemeinfrei via pixabay / Dennis Gries

Playmobil an der Krippe
Warum an Heiligabend Erwachsene wieder Kinder sind
24.12.2023 - 08:35
30.05.2023
Pfarrerin Anne Kampf

von Pfarrerin Anne Kampf

Über die Sendung:

Weihnachten – das Fest der Familie. Kinder stehen im Mittelpunkt. Junge Eltern sehnen sich danach, wieder Kinder zu sein. Menschen im mittleren Alter denken an ihre alten Eltern – und was für sie selbst jetzt das „Kindsein“ bedeutet. Und ist man eigentlich noch „Kind“, wenn die Eltern gestorben sind? Der Apostel Paulus meint: Ja! Weihnachten feiern kann heißen, „Kind Gottes“ zu sein, zugehörig zu einer weltumspannenden Familie, geborgen in der sinnstiftenden Gemeinschaft. „Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!“ (Gal 4,6)

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Es ist der Morgen des Heiligen Abends. Zeit, alles vorzubereiten. Die Kiste mit der Krippe steht bereit: Maria, Josef, das Jesus-Kind, die Hirten und Engel schlummern noch darin. Seit Wochen fragt sich Christine, ob sie die Krippe dieses Jahr überhaupt aufstellen soll. Noch nie haben die Figuren in ihrem eigenen Wohnzimmer gestanden. Seit Christine zurückdenken kann, hat sie die Krippe am Morgen des Heiligen Abends mit ihren Eltern zusammen aufgestellt, in mehr als 50 Jahren. Doch diesmal ist alles anders. Es ist ihr erstes Weihnachten als Waise. Beide Eltern sind im vergangenen Jahr gestorben, erst die Mutter, dann der Vater. Monatelang hat Christine das Haus leergeräumt, Papiere sortiert, mit dem Notar gesprochen, Behörden und Versicherungen angeschrieben, einen Grabstein bestellt. Jetzt fühlt sie sich erschöpft und verloren. Wie ein Kind ohne Eltern. Allein.

Vor diesem Tag hat sie sich gefürchtet – vor dem ersten Weihnachten ohne die Eltern. Gerade weil es immer so harmonisch war mit ihnen, jedenfalls in ihrer Erinnerung. Christine träumt sich zurück zu einem besonders schönen Weihnachtsfest. Sie muss wohl fünf Jahre alt gewesen sein. Da lag unterm Weihnachtsbaum ein großes Geschenk, ein Karton. Darin: bunte Figuren aus Plastik mit lachenden Gesichtern. Sie konnten stehen oder sitzen. Oder reiten. Christine hatte zu Weihnachten eines der ersten Sets von Playmobil bekommen: Cowboys, Indianer und Pferde. Im Laufe der Jahre kamen Ställe und Zäune dazu, die ihr Vater aus Holz gebastelt hat. Nachmittage lang zelebrierte Christine in ihrem Zimmer die wildesten Ritte und Kämpfe und ließ am Abend ihre Figuren am Lagerfeuer sitzen und Blutsbrüderschaft schwören.  

Ach, noch einmal Kind sein... noch einmal als Kind Weihnachten feiern... Die Spannung, bevor im Wohnzimmer das Glöckchen läutet, der Moment, in dem der Vater die Türe öffnet, die echten Kerzen am Baum, das Leuchten und Glitzern im ganzen Haus, und dann die reine, kindliche Freude beim Auspacken der Geschenke. Christine hatte eine schöne Kindheit. Ihre Eltern waren fürsorglich und liebevoll. Nie rutschte eine Hand aus, im Gegenteil: Was auch immer passiert war, in den Armen der Eltern fand Christine Zuflucht und Trost.

 

Schwierig wurde es erst in den letzten Jahren, als ihre Eltern Unterstützung brauchten, das aber nicht so leicht zugeben konnten; als Christine sich für sie verantwortlich fühlte, die Eltern aber den Rollentausch nur schwer akzeptierten. Schließlich starben beide im Krankenhaus, im Abstand von wenigen Monaten. Oft fragt sich Christine seitdem, ob sie alles richtig gemacht, ob sie genug für sie getan hat.

 

Christine steht immer noch vor der Kiste mit den Krippenfiguren und fragt sich, ob sie die Krippe aufstellen soll oder nicht. Ein Stall mit Engeln und Schafen – ist das nicht etwas für Kinder? War das nicht die ganzen Jahre lang eine Inszenierung der Eltern für ihre Tochter? „Jetzt ist wohl meine Kindheit endgültig vorbei“, denkt Christine, „mit über 50...“ Zumindest möchte sie die Krippe noch einmal anschauen. Zögernd öffnet sie die Kiste. Die Figuren sind in Zeitungspapier eingewickelt. Ihre Mutter muss die Figuren und das Papier zuletzt berührt haben. Christine wickelt die Maria aus und betrachtet sie nachdenklich. Dann befreit sie den Josef von der Zeitung. Ihr Vater muss die Kiste im Januar auf den Dachboden zurückgebracht haben. Christine kramt jetzt darin und sucht nach dem Säugling, findet das kleine Päckchen ganz unten, wickelt ihn aus und legt ihn sanft in seinen Futtertrog. Marias und Josefs Sohn. Gottes Kind... Kind Gottes.

Wo hat sie das neulich gelesen: „Kind Gottes“? Richtig: im Familienstammbuch, beim Sichten der Unterlagen ihrer Eltern. In den Siebziger Jahren wurde das Stammbuch noch handschriftlich ausgefüllt, und es mag wohl die Schrift des damaligen Pfarrers aus ihrem Dorf sein: „Durch das heilige Sakrament der Taufe ist Christine Magdalene Kind Gottes geworden. Kirche Sankt Paul, am 11. Mai 1971.“ Christine sieht einen Säugling im weißen Kleid vor sich, der sie selber war. Kind ihrer Eltern und durch die Taufe Kind Gottes. Wie schön das klingt: „Kind Gottes geworden“. Es klingt nach Nie-mehr-allein-sein. Nach: „Gott ist wie Mutter und Vater, die immer aufpassen.“ Nach: „Mir kann nichts passieren.“ Als Kind konnte Christine das glauben, stellte sich Gott vor wie einen Engel mit Brille, Bart und Flügeln, der knapp über ihr schwebt, unsichtbar natürlich. Mit den Jahren hat sich dieser bärtige Engel immer weiter von ihr entfernt – oder sie sich von ihm? Und wo ist Gott jetzt?

 

Die Krippe in Christines Wohnzimmer nimmt Gestalt an. Da steht der Stall mit dem Stern am Giebel. Hirten und Schafe kommen neugierig heran. Maria und Josef stehen am Futtertrog. Der Säugling Jesus liegt in seinem Strohbett. „Ist dem eigentlich nicht kalt?“, fragt sich Christine, geht ins Schlafzimmer, holt eines der Stofftaschentücher von ihren Eltern und deckt Gottes Kind sanft zu. Wie eine große Schwester ihren kleinen Bruder zudecken würde. Der Gedanke macht Christine traurig.

Sie hätte so gern Geschwister gehabt: Als Kind, um gemeinsam mit den Playmobil-Cowboys und Indianern zu spielen, und als Erwachsene, besonders zuletzt, als die Eltern Unterstützung brauchten. Und noch mehr in der Zeit danach, als die Eltern gestorben sind:

Zu zweit oder zu dritt hätten sie sich austauschen können über den Schmerz, hätten gemeinsam trauern können. Hätten noch einmal zusammen die Kinder der Eltern sein können.

Christine beschließt, ihre Beschäftigung mit der Krippe zu unterbrechen, um jetzt nicht weiter in Traurigkeit zu versinken. Sie setzt Teewasser auf und geht dann zum Briefkasten. Eine Weihnachtskarte von ihrer Freundin Sabine liegt darin, sie muss gestern gekommen sein. Wie schön! Sabine und Christine kennen sich seit der Grundschule, haben zusammen Abitur gemacht und seitdem immer die Verbindung gehalten. „Ich kann mir vorstellen, dass Weihnachten für dich seltsam wird ohne die Eltern“, schreibt die Freundin. „Aber denk dran: Du bist nicht allein.“ – „Naja, doch“, denkt Christine. „Natürlich bin ich allein.“ Aber Sabine schreibt weiter: „An Weihnachten sind wir alle wie eine große Familie.“  – „Wer, wir alle?“, fragt sich Christine, legt die Karte beiseite und gießt Tee in ihre Tasse.

Ihr Blick fällt wieder auf die Krippe. Maria und Josef könnten etwas näher bei ihrem Kind stehen, denkt Christine und rückt die Figuren zum Futtertrog mit dem jetzt zugedeckten Säugling. So ist es besser. Gottes Kind soll sich geborgen fühlen, soll die Nähe der Eltern spüren, die sie selbst so schmerzlich vermisst an diesem Heiligabend. „Von wegen große Familie... Sabine hat gut reden, schließlich hat sie einen Mann und zwei Kinder...“ Christine liest die Weihnachtskarte noch einmal. „Du bist nicht allein. An Weihnachten sind wir alle wie eine große Familie.“ Vielleicht doch ein schöner Gedanke: eine Familie mit vielen Kindern... Gottes Kindern... Im Stammbuch steht es ja schwarz auf weiß: „Durch das heilige Sakrament der Taufe ist Christine Magdalene Kind Gottes geworden.“ Es ist wie eine Adoption durch Gott. Die Weihnachtskarte ihrer Freundin in der Hand, denkt Christine: „Kind Gottes bleibe ich doch auch als Erwachsene, auch als Waise mit über 50.“

 

So langsam kann Christine sich ein bisschen freuen an diesem Heiligabend-Morgen. Sie freut sich über die Karte von ihrer Schulfreundin Sabine. Sie erinnert sich, wie das war: Weihnachten als Kind. Die Freude auf das Auspacken der Geschenke. Wo sind eigentlich ihre Playmobils? Richtig: auf dem Dachboden. Christine holt den Karton herunter, öffnet ihn vorsichtig und nimmt Cowboys und Indianer heraus. Von den Dimensionen her passen sie nicht ganz zu den Krippenfiguren: Sie sind größer als Maria und Josef. „Macht nichts“, sagt sich Christine, „heute sind sie eben erwachsene Kinder wie ich.“ Da dürfen sich die Größenverhältnisse ruhig ein wenig verschieben. Sie stellt die Playmobils nahe an Maria, Josef und dem Jesuskind auf, alle einander zugewandt und wie immer lächelnd.

Dann macht sie ein Foto von der erweiterten Krippe und schickt es Sabine. „Eine große Familie“, schreibt sie und tippt einen Smiley dazu. „Daumen hoch“ kommt von Sabine zurück – und noch ein Smiley mit Heiligenschein.

Beim Frühstück überlegt Christine, ob sie heute doch in die Kirche gehen soll.

Beim Aufstehen am Morgen hatte ihr der Gedanke zu sehr wehgetan. In der Kirche muss sie immer an ihre Eltern denken und kann die Tränen, die dann kommen, nicht zurückhalten. Aber warum sollte man eigentlich in der Kirche nicht weinen dürfen? Wer sie kennt, wird es wohl verstehen. Als Christine noch überlegt, in welchen der drei Gottesdienste sie heute gehen will, klingelt es an ihrer Tür. Es sind die beiden Nachbarskinder Anton und Leni. „Kommst du heute zum Krippenspiel?“, fragt Anton. „Gerne!“, sagt Christine und lädt die beiden ein, ihre Cowboy- und Indianer-Krippe anzuschauen. Andächtig stehen sie eine Weile davor. „Bist du traurig?“, fragt Anton plötzlich, „weil deine Mama und dein Papa nicht mehr da sind?“ – „Ja, schon“, sagt Christine. „Aber heute bin ich auch ein bisschen froh. Denn heute bin ich nochmal ein Kind.“ – „Aber du bist doch schon groß!“, widerspricht die siebenjährige Leni. „Stimmt. Aber Weihnachten erinnert mich daran, dass Gott wie ein Vater und eine Mutter für mich ist. Und für euch auch!“ Leni denkt angestrengt nach. „Dann sind wir ja an Weihnachten wie Geschwister...“ Anton gefällt der Gedanke: „Wie eine Familie sind wir – alle, die heute Weihnachten feiern.“ 

Es gilt das gesprochene Wort.

Musik dieser Sendung:

  1. December: Die Nacht ist vorgedrungen (instrumental, Quadro Nuevo)
  2. Auszeit - Weihnachtliche Impressionen: Vom Himmel hoch instrumental, Volker Schäfer)
  3. O du fröhliche: Tochter Zion (instrumental, Volles Jazz Quartett)
  4. RTL Weihnachten 2011: Ich steh an deiner Krippen hier (James Last)
30.05.2023
Pfarrerin Anne Kampf