"Sie küssten sich und weinten"
Die Befreiungskraft queerer Bibellektüre
05.02.2023 08:35
Sendung nachlesen:

David liebte Jonathan wie sein eigenes Herz. Ruth schwor Naomi Treue bis zum Tod. Und Joseph war ganz anders als seine Brüder... – Geschichten von Menschen aus der Bibel. Die evangelische Pfarrerin Kerstin Söderblom liest solche Geschichten queer.

(Söderblom): Queer zunächst einmal heißt komisch, schräg, pervers oder provokant, und es war lange Zeit ein Schimpfwort für Lesben, Schwule und Trans-Personen. Und ungefähr seit den Achtziger/Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben Menschen es umgewandelt zu einer stärkenden Selbstbezeichnung. Und queere Theologie heißt, dass queere Personen selbst Subjekt werden und sich Gedanken machen, was biblische Geschichten und theologische Aussagen mit ihrem Leben zu tun haben.

Kerstin Söderblom ist Pfarrerin der Evangelischen Studierendengemeinde in Mainz und ehrenamtlich Mitglied im Europäischen Forum christlicher Lesben-, Schwulen-, Bi-, und Transgruppen. Ihr Interesse für queere Bibellektüre wurde Ende der Neunziger Jahre geweckt – in den USA.
(Söderblom): Das hat neue Horizonte geöffnet für mich. Und so hab ich das Wort queer und auch queere Perspektiven mit nach Deutschland gebracht und hab dort Mitstreiter:innen gesucht, und wir haben Netzwerke gegründet und erste Workshops angeboten, wo queere biblische Relektüren auch einfach eingeübt wurden.

Zum Beispiel mit der Geschichte von David und Jonathan. Als Sohn von König Saul war Jonathan Thronfolger in Israel, er lebte am Hof. David dagegen war ein (einfacher) Hirte. Dass er mutig und schlau war, bewies David, als er den Riesen Goliath mit einer Steinschleuder besiegte.
(Söderblom): Und weil er so klug und so schlau war, ist er an den Königshof gekommen. So lernten sich David und Jonathan kennen. Und, so steht es in der Bibel, als Jonathan den David zum ersten Mal gesehen hat, war er sofort fasziniert von diesem David und ihm sehr zugetan.

Jonathan schloss David in sein Herz, und Jonathan liebte David wie sein eigenes Leben. (1 Sam 18,1)

(Söderblom): Und das zeigt sich daran, dass der Jonathan dem David nicht nur seinen Mantel schenkte, sondern auch seine Rüstung, seinen Pfeil und Bogen, und sein Schwert. Das heißt: Er hat sich ihm gegenüber komplett verwundbar gemacht. Er hat ihm eigentlich alles geschenkt.
Saul, der König, merkt, wie stark David ist und er wird eifersüchtig auf ihn. Er sieht auch, wie eng sein Sohn Jonathan und David miteinander Umgang pflegen und auch darauf ist er eifersüchtig. Er verflucht sogar seinen Sohn Jonathan und empfindet diese Verbindung zwischen David und Jonathan als Schande, so steht es wörtlich in der Bibel.

Du Sohn einer ehrlosen Mutter! Ich weiß sehr wohl, dass du dir den Sohn Isais erkoren hast, dir und der Blöße deiner Mutter zur Schande! (1 Sam 20,30)

(Söderblom): Deshalb musste David vom Königshof fliehen. Und so haben sich David und Jonathan draußen auf dem Felde verabredet und dort getroffen. Und kurz vor einer sehr wichtigen Schlacht haben sie sich in der Weise voneinander verabschiedet, dass sie einen Freundschaftsbund miteinander geschlossen haben und sich ewige Treue geschworen haben.

Sie küssten einander und weinten miteinander, David aber am allermeisten. Und Jonathan sprach zu David: Geh hin mit Frieden! Für das, was wir beide geschworen haben im Namen Gottes, dafür stehe Gott zwischen mir und dir, zwischen meinen Nachkommen und deinen Nachkommen in Ewigkeit. (1 Sam 20, 41-42)

(Söderblom): Es kommt zu dieser Schlacht und in der Bibel steht lapidar, dass sowohl Saul, der König, als auch Jonathan, sein Sohn Jonathan bei dieser Schlacht ums Leben kommen. Und jetzt kommt es zu einem sehr bemerkenswerten Klagepsalm – so kann man das wirklich sagen – ein Klagelied, das David auf den Jonathan singt.

Weh ist es mir um dich, mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich als die Liebe der Frauen. (2 Sam 1,26)

(Söderblom): Am Anfang schien es so, dass Jonathan sofort dem David verfallen ist, und hier bei dieser Klage wird deutlich, dass es sehr wohl wechselseitig war in einer besonderen Weise. David und Jonathan haben eine sehr enge – auch emotional enge – Männerfreundschaft gepflegt.

Könnte man sagen: David und Jonathan waren schwul?
(Söderblom): Schwul ist ein modernes Wort. Insofern passt es nicht. Was ich aber sehr wohl sagen würde, ist: Da war Liebe im Spiel – wie immer diese Liebe heißt. Das darf sehr wohl offen bleiben. Es braucht kein Etikett und auch keine Kategorie um deutlich zu sein: Das war stark.

 

Eine andere biblische Geschichte handelt von zwei Frauen: von Naomi und ihrer Schwiegertochter Ruth. Naomi stammte aus Bethlehem und lebte als Fremde im Land Moab. Ruth war – wie ihre Schwägerin Orpa – eine Moabiterin. Alle drei Frauen hatten ihre Männer verloren.
Söderblom: In der damaligen Zeit, die sehr patriarchal organisiert war, war das eine schwierige Situation für die Frauen. Deshalb entschied sich Naomi, wieder in ihr Heimatland und ihre Heimatstadt Bethlehem zurückzukehren. Und ihren beiden Schwiegertöchtern Ruth und Orpa riet sie, zuhause zu bleiben in Moab, dort waren sie geboren, um wieder neue Ehemänner zu finden. Orpa, die eine, blieb zurück. Und Ruth, die andere Schwiegertochter, sie sagte deutlich: Ich gehe mit dir. Und sie tat das in einem sehr sehr beeindruckenden Satz.

Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen soll. Wo du hingehst, will auch ich hingehen, und wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich begraben sein. Nur der Tod wird mich von dir scheiden. (Ruth 1,16-17)

(Söderblom): Viele kennen diesen Satz, weil er auch bei heterosexuellen Paaren sehr beliebt ist als Trauspruch. Die wenigsten wissen aber, dass tatsächlich ursprünglich dieser Vers von einer Frau zur anderen gesprochen wird. Und das macht diesen Vers subtil subversiv. Von einer Frau zur anderen und man kann sich denken, dass wenn man so einen Satz aus einer queeren Perspektive liest, dass da sofort etwas anderes noch mitschwingt, nämlich dass eine Frau einer anderen Frau die Treue schwört.

Naomi und Ruth gingen gemeinsam nach Bethlehem. Zunächst war ihre Situation prekär. Doch Naomi hatte einen Plan: Sie sorgte dafür, dass ein Verwandter – Boas – Ruth heiratet. Damit waren die beiden Frauen wirtschaftlich abgesichert. Ruth wurde schwanger und bekam einen Sohn – Obed.
(Söderblom): Die Frauen aus diesem Dorf, in Bethlehem, wo sie wohnten, zitierten das so: "Ruth hat Naomi einen Sohn geboren." Das heißt, die Frauen haben nicht gesagt: Ruth hat Boas, dem Vater, einen Sohn geboren, sondern Ruth hat Naomi einen Sohn geboren. Die haben also sehr genau gewusst, dass die emotionale Beziehung hier zwischen Ruth und Naomi stattfindet und geschieht.

Zwei Frauen, die einander lieben, sich gegenseitig Halt geben und füreinander sorgen. Plus Mann und Kind. Für Kerstin Söderblom eine Schlüsselgeschichte. 
(Söderblom): Gerade weil sie ermutigend ist für alle, die sozusagen jenseits des heterosexuellen Mainstreams zusammenleben, zum Beispiel als zwei Schwestern, als Schwiegermutter und Schwiegertochter, als Freundinnen, oder auch in einer Wohngemeinschaft zusammenleben, eben in einer Patchworkfamilie, heute würden wir sagen Regenbogenfamilie. Auch das ist nichts Neues unter der Sonne. Das gab es auch schon in biblischen Geschichten.

 

Eine dritte Geschichte handelt von Joseph, Sohn von Jakob und Rahel. Die Familie lebte als Halbnomaden am Rand der Wüste. Joseph hatte zehn ältere Halbbrüder, die Schafe und Ziegen hüteten. 

(Söderblom): Joseph aber war irgendwie anders. Er blieb lieber bei den Zelten und war überhaupt nicht so drauf wie seine Brüder, die tollten lieber rum, spielten und kämpften miteinander, zeigten sich, wie stark sie sind – das interessierte Joseph nicht. Er erzählte Geschichten und träumte viel. Er war gleichzeitig auch der Lieblingssohn von seinem Vater Jakob.

Jakob aber hatte Josef lieber als alle seine Söhne, und machte ihm einen bunten Rock. Als nun seine Brüder sahen, dass ihn ihr Vater lieber hatte als alle seine Brüder, wurden sie ihm feind. (Gen 37,3-4, LUT)

(Söderblom): Nun muss man wissen, dass das hebräische Wort für diesen bunten Rock, kethoneth passim, ganz ganz selten in der Bibel vorkommt. An einer zentralen Stelle kommt es noch einmal vor, und dort sagt dieser Ausdruck kethoneth passim, dass es um ein Prinzessinnenkleid geht. Also nicht irgendein Rock, den vielleicht jeder junge Mann damals in der Zeit getragen Zeit getragen hat, sondern es ging um ein Prinzessinnenkleid. Das ist schon sehr besonders. Und Joseph trug dieses Kleid sehr stolz.
Jakob war es, der Joseph das Prinzessinnenkleid gemacht hat – mit seinen eigenen Händen. So ist das Kleid ein Zeichen dafür, dass der Vater sein besonderes Kind unterstützte und akzeptierte.
Einmal geht Joseph im Prinzessinnenkleid aufs Feld zu den Brüdern. Die sind schon lange eifersüchtig auf Joseph. Sie ziehen ihm das Kleid aus, werfen ihn in eine Zisterne und verkaufen ihn an eine Karawane nach Ägypten. Dort steigt Joseph auf vom Sklaven bis zur rechten Hand des Pharao – dank seiner Gabe, Träume zu deuten. Als eine Dürre ausbricht, hat Joseph vorgesorgt: Die Kornspeicher sind voll. Jakobs Söhne kommen nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Sie treffen auf Joseph und erkennen ihn nicht. Bis sich Joseph weinend seinen Brüdern zu erkennen gibt.

Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und jetzt lasst es euch nicht schmerzen und es soll nicht in euren Augen brennen, dass ihr mich hierher verkauft habt. Zur Lebenserhaltung hat mich Gott vor euch her geschickt. (Gen 45,4-5, BigS)

(Söderblom): Das wichtigste an der Geschichte ist aber vielleicht, dass am Ende dieser Geschichte die Brüder den Joseph zum ersten Mal als den sehen konnten, der er wirklich war. Er war sensibler, er war nachdenklicher, er hörte zu, war träumerisch, er war vielleicht femininer als die andern, aber eben nicht besser und schlechter, sondern sehr gut in dem, was er konnte, nämlich: Träume deuten, sensibel zuhören, den Pharao beraten und Versöhnung zeigen.

 

Die Geschichte von Joseph hat immer wieder Menschen berührt, die sich ihm nahe fühlen. Kerstin Söderblom hat ein Beispiel entdeckt:
(Söderblom): Ich möchte erzählen von einem transidenten Youtuber, ein schwarzer Dichter, der heißt J Mase III., und der hat diese Josephsgeschichte aus der Bibel sehr genau gelesen und studiert und auf sein eigenes transidentes Leben bezogen:

Joseph, Josephine, Jo, deine Liebe hat die Dunkelheit der Vorbehalte deiner Brüder durchbrochen. Und zum ersten Mal hat dich deine Familie so gesehen, wie du bist. So wunderbar. Denn du warst es, der die Menschen vom Hunger gerettet hat. Joseph, Josephine, Jo, ich beanspruche deine Geschichte für jedes schwul-lesbisch queere Kind, dem erzählt wird, dass es unheilig sei, für jede schwul-lesbisch queere Person, der erzählt wird: Wenn du lieben willst, musst du deinen Glauben sterben lassen.

Der Künstler hat Glauben wiedergewonnen, Kraft geschöpft – und auch andere Menschen ermutigt, indem er die Josephsgeschichte auf sein eigenes Leben bezog. Genau das macht queere Bibel-Re-Lektüre. Menschen finden zwischen den Zeilen die verschiedensten Formen von Identität, Liebe und Familie – und (sie) erkennen: "Das hat was mit mir zu tun."
(Söderblom): Und das ist das, warum ich auch immer noch als Pfarrerin des 21. Jahrhunderts so gerne biblische Geschichten mit anderen Menschen zusammen lese: Weil man immer wieder Neues entdeckt und es so wunderbar ist, auch wenn andere Menschen in diesen Workshops, die ich halte, Dinge entdecken für sich persönlich oder mit anderen zusammen, wo sie immer sagen: Boah! Ich hätte nie gedacht, dass sowas in der Bibel steht.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Melissa Etheridge: Like The Way I Do, CD-Titel: Melissa Etheridge, Track Nr. 3.
  2. Melissa Etheridge: Royal Station, CD-Titel: Brave and Crazy, Track Nr. 10.
  3. Melissa Etheridge: Testify, CD-Titel: Brave and Crazy, Track Nr. 6.

 

Literaturverweis:

Kerstin Söderblom: Queer theologische Notizen, Esuberanza (Niederlande) 2020. Link zum Buch
Kerstin Söderblom: Queersensible Seelsorge, erscheint im März bei Vandenhoeck& Ruprecht. Link zum Buch