Glauben!

Am Sonntagmorgen

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Glauben!
Die Kunst des Nichtkönnens lernen
21.05.2023 - 08:35
07.01.2023
Klaus Priesmeier

von Pfarrer Klaus Priesmeier

Über die Sendung:

"Abendland – eine Erscheinung von größter kultureller Güte. Worin bestand seine Faszination?" Dieser komplexen Frage widmet sich Pfarrer Klaus Priesmeier. Er führt die Geschichte des "christlichen Abendlandes" parallel zu einer Geschichte von Überschätzung eigenen Könnens und Erkenntnis eigenen Nichtkönnens. 

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Abendland. Das liegt nach Westen hin, wo die Sonne untergeht. Aber kommt denn christlicher Glaube nicht vom Sonnenaufgang her? Vom Aufgang des Lichtes Christi unter den Menschen? Heißt es nicht: Christus ist das Licht? Ein Licht aus Israel – im Osten.
Warum überhaupt „christliches“ Abendland? Weil dieses Licht auch in den Westen nach Europa kam. Und es leuchtete aus einem Morgen entgegen, der nicht mehr zum Abend werden sollte.
Längst ist das für Abendländer eine ziemliche Herausforderung, sich diese Ausbreitung des christlichen Glaubens vorzustellen. Und es tun sich viele Bewohner des Abendlandes mit dem Christlichen schwer. Mit dem Licht, das Christus sein soll. Was also wurde zum Licht dieses christlichen Abendlands?
Keinesfalls eine Sonne, die abendlich untergeht. Sondern ein Licht, von dem man meinte, man würde es besitzen. Denn es gehöre einfach dazu zu dieser Welt. Es prägte die Welt im Abendland. Und das Abendland machte aus der Christusbotschaft sein ganz eigenes Programm.

Abendland – eine Erscheinung von größter kultureller Güte. Worin bestand seine Faszination? War es vielleicht die Hingabe an den Gedanken, alles zu können, ja das Können selbst zu können? Mir erscheint diese Hybris naheliegend, in dreifacher Hinsicht.
Dreimal erlag die abendländische Kultur dem Gedanken, zu wissen, wie Leben geht. Und nicht nur das: der Gedanke wurde zum groß angelegten Versuch, eine entsprechende Welt zu gestalten.
Zum einen: Man dachte sich Gott als obersten Herrn aller Herren. Gott stand ganz oben. Und diesem himmlisch Allmächtigen folgten die irdisch Mächtigen - zusammen eine Herrschaft wie in einer vom Himmel auf die Erde übergreifenden Pyramide. Oben Gott, dann Kaiser und Papst, Könige und Bischöfe, Fürsten und Pfarrer. Immer weiter dachte man diese Pyramide, bis hin zu den einzelnen Hausvätern der Höfe und Hauswirtschaften. Ein festes System; aus ihm auszubrechen, das kam einer Gotteslästerung gleich.
Zum zweiten: das Leben der Gemeinschaft war gefügt in den Lauf des Jahres. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter – das Naturjahr und das Kirchenjahr waren eine Einheit. In der Agrargesellschaft gesellte sich der Einheit von Natur und christlicher Frömmigkeit das Wirtschaftsjahr selbstverständlich bei.
Zum dritten: das Wissen von der Welt und die Weisheit, wie Leben geht, drückte man ebenso selbstverständlich aus in einem Kanon des Wissens, in dem Gott und Welt nahtlos ineinander fielen.

In einem schlichten Satz gesagt: Das Abendland machte aus seinem Glauben eine christliche Welt. Und das ging gut: in der Politik, im Alltag, in Wissen und Lehre. Man dachte: Das können wir – und das machen wir. Man dachte, das Können selbst zu beherrschen, das „Können zu können“. So entstand eine Welt, in der Leben und Glauben eins wurden – und der Unglaube erschien als unmöglich. So entstand ein Können, in dem Herrschaft und Gott, Weltleben und Glaubenswahrheit, Glauben und Wissen eins sind. Gott, Leben, Wissen – alles war Ausdruck desselben Seins – des Seins, das allem zugrunde liegt. Und eins hängt im anderen, darum durfte man nichts davon anzweifeln. Das würde diese Welt zerbrechen lassen.

Ja, man dachte, das klappt. Und eine gar nicht so kurze Weile schien das auch zu gelingen. Den ersten großen Sprung in diesem menschlichen Töpferwerk gab es mit der Reformation. Mit der Reformation standen sich im 16.Jahhundert auf einmal zwei sich widersprechende ganze Christentümer gegenüber. Da musste die Frage aufkommen, was aus diesem Widerspruch folgte. Der Versuch, diese Frage zu umgehen, misslang. Die Einrichtung konfessionell gleicher Herrschaftsgebiete brachte keinen Frieden, sondern die Konfessionskriege – der bekannteste von ihnen dauerte dreißig Jahre lang. Das gemeinsame Gerüst der Einheit von Glauben, Wissen und Macht zerbrach. In den damit verbundenen Entwicklungen sieht man heute eine wichtige Ursache für den säkularen Staat, für eine gemeinsame Ordnung ohne konfessionelle Festlegungen. Das Abendland verliert zunehmend das Attribut christlich. Immer schwerer wurde es zu sagen, vor allem verbindlich zu sagen, was dieses Attribut „christlich“ denn eigentlich bedeute. Und: worin es sich zeigt. Konfessionelle Christentümer brachten keinen Frieden, sondern Krieg. Also musste man den Frieden über sie hinweg suchen.
In den folgenden drei Jahrhunderten zerfiel die alte Herrschaftspyramide. Die zunehmende Arbeitsteilung einer immer differenzierteren Gesellschaft entzog einem gemeinsamen Leben die Grundlage, die bislang auf Basis des Naturjahres auch im Kirchenjahr einen für alle gemeinsamen Ausdruck fand. Und nicht zuletzt zerfiel mit Aufklärung und Wissenschaft die behauptete Einheit von Glauben und Wissen. Nicht mehr zu leugnen war die Tatsache, dass die Erforschung der Welt die Frage nach der Rolle Gottes nicht beantworten konnte. Man wurde Gottes in dem allen nicht gewahr.
Zerbrochen war das alte Konzept einer Welt, die von Gott her herrschaftlich strukturiert war. Ebenso das der Jahres- und Lebensläufe, die sich in ein festes, einheitliches Konzept eingliederten. Und dann auch die Formulierung des Wissens, in dem Glaube und Welterkennen wie automatisch eins und einig waren. Der Glaube legte sich nicht mehr nahe. Blieb jetzt vom christlichen Abendland nur noch der Abend?

Das abendländische Konzept, eine christliche Welt „machen“ zu können, scheint gescheitert. Und alle Versuche, sich dahin zurückzuträumen, werden es auch sein. Das hat tiefgreifende Folgen für den Glauben, aber auch für die Kirchen, wenigstens in Bezug auf ihre Organisation in Gesellschaft und Staat. Wie sich die Kirchen in den kommenden Jahren ausprägen und darstellen werden, das ist eine Frage, die vermag heute keiner sicher zu beantworten.

Noch mehr bewegt mich die Frage nach einer tragfähigen Orientierung, im Glauben wie im christlichen Leben. Einen wichtigen Hinweis finde ich abseits der Theologie in Gedanken der Kunstphilosophie. Bislang waren Christen wie ich über Jahrhunderte davon ausgegangen, als Menschen den Glauben und die Gestaltung ihrer Verhältnisse vom Glauben her zu können. Vielleicht liegt ja gerade darin ein verheerender Irrtum. Müsste  ich nicht etwas ganz anderes lernen: erst einmal das Nichtkönnen zu bemerken? Und dann lernen, mit diesem Nichtkönnen zu leben – das Nichtkönnen zu „können“? Und so lange ich das nicht lerne – werden da nicht alle Versuche scheitern, die gegenwärtigen Entwicklungen zu verstehen und mit ihnen als Christ umzugehen?
Dann ginge es darum, das vermeintliche Können aus der Hand zu legen. Vielleicht ja auch das aus der Hand zu legen, was etliche kirchliche Versuche so gerne wollen: die Entwicklung und Organisation von Kirche in den Griff zu bekommen und Zukunft „zu machen“. Mag ja sein, die ist in diesem Sinne gar nicht machbar. Ich kann mir vorstellen: das ist auch eine Befreiung – das selbstbezogene und so oft selbstverzweifelte Machen aus der Hand legen. Anzuerkennen, dass Zukunft im Glauben nicht durch Zugriff entsteht, sondern durch Loslassen, Warten, Hoffen. Zukunft kommt nicht aus der Selbstüberhebung, das Können zu können. Sondern erst einmal das Nichtkönnen. Und dann leben zu lernen, mit dem Nichtkönnen, das „Nichtkönnen können“.

Diesen Gedanken fand ich bei Nietzsche. Ausgerechnet der! Zufällig ist das aber sicher nicht. Denn Nietzsche ist der, der wie kein anderer den „Zerbruch“ dieser Welt beschrieb. Einer Welt, in der man meinte, Glauben und Leben, Herrschen und Wissen in einem haben zu können. Und Nietzsche beschrieb nicht nur – er wollte ja auch stoßen, was schon fällt.
Wie aber kommt dann aus dem, was zerbirst, wie kommt nach dem, was war, Neues? Wie lassen sich Leben und Glauben so entdecken, dass „es stimmt“? Und wo findet man das? Ganz neu ist der Gedanke des eigenen Nichtkönnens ja nicht. Er findet sich schon in der Theologie der Reformatoren – und die behaupten: bereits in der Bibel sei er zu finden.

Nietzsche macht klar: „Das den Künstlern abgelernte Können ist ein Sehenkönnen, ein Sichandersehen können: als bloßer Schein, als ästhetisches Phänomen. Wer das gelernt hat, gewinnt eine ‚Freiheit über den Dingen‘, … Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen.´ Wer so auf sich schaut, kann dann auch anders tätig sein: Er kann schweben und spielen´“
Nicht: machen und können – schweben und spielen! Bei Nietzsche führt das dazu, dass der Mensch sich im künstlerischen Rausch selbst verwirklicht und die Dinge dann „seine Macht widerspiegeln“. Auch die Machbarkeit ist ja eine Art Wahn. Der Mensch kann sozusagen sich selbst in einer Art und Weise vervollkommnen, die ihm verwehrt bleibt, solange er in sich selbst gefangen ist, in seiner gewöhnlichen Normalität eines Funktionierens und sofortigen Zugreifens. Diese Gefangenschaft kann der Mensch, so Nietzsche, mit Hilfe der Kunst überwinden. Sie gewährt ihm den Rausch – gewissermaßen über sich selbst – darin, seiner selbst als ästhetisches Phänomen gewahr zu werden. 
Was bei Nietzsche so ein Geschehen in sich selbst ist, das erkenne ich in der Sicht des Glaubens als ein Geschehen an sich selbst. In dem ist nun ein anderes Subjekt wirksam als ich selbst. Es wirkt der Heilige Geist, der den Menschen der Bewegung des Kreisens um sich selbst entnimmt, und er stellt ihn auf einen anderen Grund. Das ist es, was Christen eigentlich den Glauben nennen…

Auf diese Glaubensgrundlage stellt der Mensch sich nicht selbst, er erfährt, darauf gestellt zu werden. Und so erfährt der Glaubende im Ergriffensein gerade dies: die Freiheit, sich anders sehen zu können, nämlich als Gottes gutes und schönes Geschöpf. Nichts mehr soll ihn und sie von der Liebe Gottes trennen. Und nicht die eigene Schönheit ist es, die berauscht, sondern diese Liebe. Eine Liebe, die schön macht. Der „Rausch“ ereignet sich im göttlichen Geist, und der ist es, der den Menschen zugleich in die tiefste Einsicht und Vernunft führt.
Persönliches Glauben wie miteinander Kirche zu sein ist dann nicht mehr etwas, das wir Christen „können“. Es lebt aus einem anderen, von dem wir berührt werden. Sich dem zu öffnen und berühren zu lassen: das halte ich für eine große Chance, für Glauben und Kirche. Der Geist, der von anderswo kommt, findet Platz unter uns – und wir in ihm.
Weiter zu versuchen, aus uns selbst zu können, was man doch nicht kann, das scheint mir eine Sackgasse zu sein. Das „Nichtkönnen zu können“, der Weg. Der Weg, auf dem die Sonne auf- und nicht untergeht. Allem Abend und Abendland zum Trotz.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

  1. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Ffm 2008, S. 110.

Musik dieser Sendung:

  1. Heller: Abendland.
  2. J. S. Bach, Chorus 1 aus der Kantate „Liebster Gott…“.
  3. Good enough for me, Gospelbox 1/20.
  4. Order my steps, Gospelbox 3/12.
07.01.2023
Klaus Priesmeier