Haus der Träume

Am Sonntagmorgen

Bild: Susanne Niemeyer

Haus der Träume
Sehnsucht macht Kirche
01.03.2020 - 08:35
30.01.2020
Susanne Niemeyer
Über die Sendung:

Der Engel lächelt von der Decke, und ich finde, er sieht aus, als ob er sich freut. Dass hier etwas passiert, das er noch nicht kennt. Wenn man ein paar hundert Jahre über dem Taufstein schwebt, ist man bestimmt neugierig, wie die Welt da draußen so ist…

 
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Als erstes fliegen die Bänke raus. Sie fliegen nicht direkt, wir schleppen sie raus. Sie sind ganz schön schwer. Wir tragen ein Sofa rein und hängen eine Lichterkette auf. Stühle, Sessel, improvisierte Tische kommen dazu. Brot und Käse werden nicht reichen, weil wieder mehr Leute kommen, als beim letzten Mal. Obwohl es darum nicht geht. Jedenfalls nicht vorrangig. Der Engel lächelt von der Decke, und ich finde, er sieht aus, als ob er sich freut. Dass hier etwas passiert, das er noch nicht kennt. Wenn man ein paar hundert Jahre über dem Taufstein schwebt, ist man bestimmt neugierig, wie die Welt da draußen so ist. Wir holen sie rein. Wir bauen in der Kirche unser Wohnzimmer auf. Einen Ort, an dem wir uns zuhause fühlen. Einen Ort, an dem wir einen Gottesdienst feiern, der kein Kompromiss ist, sondern genauso, wie wir das wollen. In der Mitte steht der Fragomat, ein alter Kaugummiautomat, den wir mit großen Fragen füllen. Es gibt kein Vaterunser, weil das nun mal dazugehört. Die Orgel hat heute Abend frei. Die Bibel klingt nach Tagebuch. Wir sitzen in kleinen Gruppen, Kerzen flackern, jemand holt sich ein Bier. Wir singen Lieder von Clueso und was neu Gedichtetes. Am Valentinstag haben wir „Fix you“ von Coldplay ausgesucht. Als alle zusammen „Lights will guide you home“ sangen, war das einer von vielen Gänsehautmomenten und nicht weniger als ein Gebet.

 

Am Anfang war die Sehnsucht. Über Glauben zu reden und damit über uns. Was Gott mit unserem Alltag zu tun hat und warum wir uns trotz Netflix und Yoga-Kursen, trotz Kindern und Selbstverwirklichung immer noch nach etwas Anderem sehnen. Nach Transzendenz, aber das ist schon wieder so ein abgehobenes Wort. Am Anfang war die Sehnsucht, keine Phrasen zu hören, nicht mal, wenn sie schön sind. Wir wollten unsere Sätze einfach in der Mitte abbrechen können und hören, wie ein anderer sie fortführt. Wir haben Sehnsucht nach Liedern, deren Texte von unserem Leben singen, Lieder in denen wir Gott finden, ohne dass ihn jemand reingedichtet hat.

Jan macht die Musik. Er spielt Gitarre und bringt immer noch einen zweiten Musiker mit. Der hat dann eine Klarinette oder einen Bass dabei, je nachdem. Dann geht es einfach los, viele singen mit, wer das Lied nicht kennt, kommt schon irgendwie rein und wer nicht singen will, hört einfach zu. Ich muss an die endlosen Diskussionen denken, welche Lieder man einer Gemeinde zumuten kann und ob englisch tatsächlich schon eine Option ist oder erst in 30 Jahren.

Unsere Wohnzimmerkirche ist offen für alle. Stammplätze gibt es nicht. Es kommen Leute aus dem Viertel, andere reisen aus Hannover oder Buxtehude an. Alle sechs Wochen, freitags ab 20.30 Uhr. Manche kommen wieder, andere nicht. „Ist ganz nett hier“, sagte nach dem zweiten Mal eine Frau, „aber mein Ding ist eher der Sonntagsgottesdienst.“ Das ist gut – denn die Hauptsache ist doch, dass man etwas findet, was das eigene Ding ist.

Wir sind nicht allein. Es gibt ähnliche Projekte an anderen Orten. Wir sagen nicht: So wie wir es machen, muss Kirche sein. Aber so kann sie sein.

 

 

Das Essen kommt auf den Tisch. Wir haben Brot, wir haben Wein, wir haben Käse. Wir haben Hunger.

Ich bin eigentlich immer hungrig. Keine Vollmilchschokolade der Welt kann diesen Hunger stillen. Ich sehne mich danach, dass mich etwas berührt. Ich bin die, die auszieht, das Fürchten zu lernen. Nicht die Angst, aber die Erschütterung. Ich will Echtes in einem Leben, in dem mir digital so vieles vorgaukelt, echt zu sein. Aber wenn ich meine Hand danach ausstrecke, stößt sie doch nur gegen kaltes Glas. Was ich suche, nenne ich Gott. Andere nennen es anders: Sinn oder Erfüllung. Glück oder eine Vision. Lagom, Awareness, Flow. Immer geht es um etwas, das mich über mein Alltagsselbst hinaushebt. Über die, die den Müll rausbringt, die Tageszeitung liest, über Altersvorsorge und Demokratie diskutiert, ins Theater geht, zum Geburtstag einlädt, Tulpen kauft. Ich habe Sehnsucht nach mehr.

Ich sehne mich nach Sachen, die keine Sachen sind. Der Wunsch, das neue iPhone zu haben, ist keine Sehnsucht. Sehnsucht ist überhaupt kein Habenwollen, sondern ein Seinwollen. Geliebt, ergriffen, berührt, verstanden, glücklich, gestillt. Alle destruktiven Stimmen schweigen. Auf einmal passt alles zusammen. Ich bin Ich in ganz.

Dann gehe ich in die Kirche, weil die Spezialistin für sowas sein müsste. Die Bibel erzählt dauernd davon, dass noch etwas aussteht: Das gelobte Land. Der Himmel. Ein Leben nach dem Tod. Große Sachen. Und dann? Fühlt es sich an, als hätte jemand das Leben gedimmt. Kirchen wurden mal riesig gebaut, um etwas von dem Schwindel zu ahnen. Ein Schwindel, der sich nicht erklären lässt. Aber nicht alles, was sich nicht erklären lässt, ist gleich Betrug. Gefühlsduselei, sagen die Nüchternen. Wirklichkeitsflucht. Sie haben es nicht ausprobiert. Wenn viele auf die Kraft der Sehnsucht setzen und gemeinsam träumen: wer wir sein könnten, wie die Welt sein könnte – dann verwandelt schon der Traum.

In vielen Gottesdiensten erfasst mich der Schlaf, aber kein Traum. Gott wird zusammengefaltet, dass man ihn in die Tasche stecken und mit nach Hause nehmen kann. Das ist praktisch und reicht für eine Woche. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Meine Taschen sind ohnehin schon so voll. In der Kirche findet Gott vor allem in meinem Kopf statt. Das ist grundsätzlich ein Gewinn, weil es eine Zeit gab, da war selbständiges Denken in Kirchen gar nicht gern gesehen. Aber heute denke ich zu viel. Ich bin vor allem damit beschäftigt zu übersetzen. Was ein Lied von 1723 mit meinem Alltag zu tun hat. Die „dürre Lebens-Au“ nicht wie Lebenssau auszusprechen. Dass Paulus mit den lieben Brüdern bestimmt auch die Schwestern meinte. Und dass „Vater“ zu Jesu Zeiten eine innovative Gottesanrede war, was man auch 2000 Jahre später irgendwie würdigen muss. So wie man ein Liebesgedicht von Schiller würdigt. Ich finde es gut, weder das eine noch das andere zu vergessen. Für meinen Liebesbrief wähle ich heute trotzdem andere Worte.

 

 

Jakob kann nicht schlafen. Weil die Gedanken in seinem Kopf Hip-Hop tanzen und weil ihm der nächste Tag bevorsteht und ein Date, vor dem er Angst hat. Er steht auf und geht hinaus in die Nacht; ich stelle mir vor, wie er dasteht und in die Sterne guckt, sich eine Zigarette ansteckt und die Füße schneller kalt werden als der Rest.

Da wirft ihn etwas um. Ein Unbekannter reißt ihn zu Boden. Sie ringen miteinander, ich sehe sie kämpfen, keiner gewinnt, denn ums Gewinnen geht es nicht. Ich höre das Keuchen ihres Atems, keiner lässt los, keiner sagt: Lass uns reden. Die beiden ringen miteinander, bis das Morgenrot die Geister der Nacht vertreibt. Der Unbekannte versucht, sich loszureißen und schlägt Jakob auf die Hüfte. „Ich lasse dich nicht gehen“, ruft Jakob, „gib mir erst deinen Segen.“ Er bekommt ihn, weil er darum gekämpft hat.

Die Geschichte ist uralt und sie ist meine Geschichte.

Ich will Jakob sein, der Gott den Segen abringt. Kein Ringelpiez, kein frommes Gerede, niemand sagt „zauberschön“. Aber es ist echt.

Was sonst noch echt ist: Regen im Gesicht. Holzfußböden und manchmal ein Splitter in der Haut. Feuer. Die Ambivalenz meiner Gedanken. Eine Treppe hochlaufen bis in den fünften Stock und nach Luft schnappen. Bässe im Bauch. Die Unverfügbarkeit der Krähen, die im nächsten Moment auffliegen. Ein Gespräch, bei dem es keiner besser weiß. Einen Körper an sich drücken. Gänsehaut.

Jakob sagt, Gott sei manchmal zum Greifen nah.

Wohl eher handgreiflich, sage ich.

Das sei die andere Seite, sagt er. Wenn du nicht in einer Wattewelt leben willst. Kann sein, dass er dich umhaut.

Kirche haut mich nicht so oft um. Jedenfalls nicht das Standardprogramm morgens um zehn. Das liegt an der Musik, die mir oft zu einseitig ist. Auch an der Sprache. An der Optik. Aber das ist Geschmacksache, anderen mag es anders gehen. Schlimmer finde ich das Gefühl, wenn alles im Ungefähren bleibt. Nett, allgemein, nachvollziehbar. Nichts und niemand tritt mir zu nah, sondern hält freundlichen Konsensabstand.

 

Vielleicht hat die Kirche eine Midlife-Crisis. Das kenne ich. Wenn man sich fragt: Kommt da noch was? Wer bin ich eigentlich? Wirke ich auf andere noch anziehend? Brauche ich ein Facelifting oder doch eher einen Selbsterfahrungskurs?

Dann macht man irgendwelche Verrenkungen, kauft einen extravaganten Lippenstift oder ein neues Soundsystem, aber eigentlich ändert sich nichts. Ist ja auch kein Wunder, weil es eben darauf ankommt, sich selbst zu mögen und mit sich einigermaßen im Reinen zu sein. Da helfen keine Imagekampagnen und keine Instagram-Auftritte.

 

Natürlich ist die Kirche keine mittelalte Frau, sie ist überhaupt keine Person. Die Kirche sind wir, immer die, die mitmachen und dabei sein wollen. Wir sind ziemlich unterschiedlich. Utopisch, dass wir alle dieselben Lieder singen wollen. Wir leben verschiedene Leben, wählen CDU oder grün, haben drei Kinder oder Wahlverwandte, finden, die Kirche sollte viel politischer oder viel weniger politisch sein. Eigentlich sind wir gar kein Wir, wenn es nicht diesen Grundkonsens gäbe: Wir suchen was. Wir folgen einer Sehnsucht, die wir Glauben nennen. An Gott, dessen Geburtsname Liebe und dessen Taufname Gemeinschaft ist. Wir sind diese Begeisterten, die mit Feuerzungen reden, jedenfalls sollten wir das sein.

Es ist an uns, das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Es nicht kerzenflammengroß zu zähmen, sondern es lodern zu lassen, ein Lagerfeuer, an dem Menschen sich wärmen.

Es liegt an uns. An vielen Orten selber anzufangen und nicht darauf zu warten, dass ein Synodenbeschluss oder ein Bischofswort Erleuchtung gibt. Auch nicht darauf, dass die eine richtige Pastorin kommt, die Kinder verzaubert, mit Jugendlichen rappt, Mittvierzigern irgendwas Loungiges bietet und den alten Herrn Müller so unter die Erde bringt, dass die ganze Trauergesellschaft plötzlich vom ewigen Leben schwärmt. Wenn es diese Pastorin gibt, dann hat sie wahrscheinlich bald Burn-Out. Wir müssen mitmachen.

Und deshalb machen wir die Türen auf, räumen wir Bänke raus und das Sofa rein. Wir hängen die Lichterkette auf. Wir streichen Butter aufs Brot zum Sattwerden. Wir probieren aus, wie das sein könnte: eine Kirche, in der wir uns zu Hause fühlen. In der wir berührt werden und berühren. Und in der Gott hoffentlich auch zu Hause ist.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:
(1) Fix you, Coldplay, X+Y
(2) Ganz egal, wo auf der Welt, „Monatslied“ August 2019, Nordkirche
(3) Atmo Saxofon, Improvisation
(4) Ein Kompliment, Sportfreunde Stiller, die gute Seite

30.01.2020
Susanne Niemeyer