Vergangen – vergessen?

Vergangen – vergessen?

Bild: unsplash/Dương Trần Quốc

Vergangen – vergessen?
Geschichte und Geschichten aus der Familie
27.01.2019 - 08:35
13.12.2018
Susanne Lohse
Über die Sendung:

Nicht nur große Männer haben Geschichte geschrieben. Auch der einfache Mann, die einfache Frau sind Kinder ihrer Zeit und haben sie mitgeprägt. Wie Familiengeschichte Zugang zur Vergangenheit schafft, davon erzählt der Beitrag von Susanne Lohse am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.

 
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Wie hat Oma als Kind ihre Ferien verbracht, wie ging es dem Vater, als er damals vor dem Nichts stand nach dem Krieg? Antworten auf solche Fragen können alte Briefe, Erinnerungsstücke oder Fotos geben.

Wenn man sich mit ihnen beschäftigt, wie Wolf Geck aus Karlsruhe.

 

Wolf Geck:

Die Saat dafür war wahrscheinlich von meinem Großvater her, der die Familiengeschichte repräsentiert und für mich ständig präsent vermittelt hat. Und ich habe bereits im Gymnasium in der Obersekunda, war das damals wohl, eine Facharbeit geschrieben über die Geschichte unserer Familie im 19. Und 20. Jahrhundert.

 

Es sind wahre Schätze, die manche Angehörigen im Nachlass finden, so auch Margarete Gryschka. Sie räumte nach deren Tod die Wohnung ihrer elf Jahre älteren Schwester und fand Kindergartenunterlagen aus mehreren Jahrzehnten.

 

Margarete Gryschka:

Da waren die ganzen Kostüme der Sommerfeste oder Weihnachtsfeste, hat sie alles von Hand genäht und die hat sie auch aufbewahrt, unter anderem solche Stöße Bilder, die die Kinder gemalt haben mit Alter und Datum. Das habe ich dann halt alles zur Pfarrei gebracht, weil die gesagt haben, sie möchten da mal durchforsten und vielleicht auch mal ein bisschen Archiv anlegen.

 

Seit drei Jahren sammelt die Christusgemeinde Karlsruhe Briefe oder Tagebücher aus Nachlässen und bewahrt sie auf. Statt in Archiven zu stöbern oder offizielle Geschichtsbücher zur Hand zu nehmen, kann auch die Familiengeschichte Zugang zur Vergangenheit schaffen. Denn nicht nur große Männer haben Geschichte geschrieben. Auch der einfache Mann, die einfache Frau sind Kinder ihrer Zeit und prägen umgekehrt ihre Zeit mit. Für Pfarrerin Susanne Labsch sind Lebensgeschichten deshalb wertvolle zeitgeschichtliche Dokumente.

 

Pfarrerin Susanne Labsch:

Das ist natürlich sehr, sehr spannend und interessant zu sehen, wie sich in einem oft langen Leben die Geschichte unserer Stadt und unseres Landes und vielleicht auch Europas spiegelt. Und das versuchen wir hier zu sammeln und zu bewahren. Denn ich finde, es ist sehr wichtig, dass wir wissen, wo wir herkommen.

 

Angestoßen hat das Projekt an der Christusgemeinde der Karlsruher Geschichtsprofessor Rolf-Ulrich Kunze. Seine Erfahrungen, die er beim Aufschreiben seiner eigenen Familiengeschichte gemacht hatte, wollte er weitergeben. Zwar enthält nicht jede Urlaubspostkarte weltgeschichtlich bedeutsame Inhalte. Doch Erinnerungsarbeit bewegt. Auch ein scheinbar unbedeutendes Erinnerungsstück kann für eine einzelne Familie das Tor zu einer anderen Welt sein.

 

Pfarrerin Susanne Labsch, Margarete Gryschka:

In vielen Familien gibt es so bestimmte Erbstücke, in meiner Familie ist das ein großer Tisch, mit dem sehr viele Erinnerungen verbunden sind und wo sich dann jemand findet, der das hoffentlich weiter tragen und weiter pflegen kann...

Auch diese Jahre, die meine Schwester und ich so vom Krieg her kennen, das können die jungen Leute ja gar nicht nachvollziehen, dass man gefroren hat, dass ein Ziegelstein im Ofen erwärmt worden ist, dass man warm hat im Bett, mit einem Tuch umwickelt. Das können die Kinder sich heute nicht vorstellen…

 

 

Geschichte von unten, so nannte sich in den 70er Jahren die damals neue Sichtweise unter Historikern. Bis heute bleibt sie umstritten. Zu subjektiv, so ihre Kritiker. Denn das Erinnerte ist ja stets gefärbt von Emotionen, von bestimmten Frage- oder Wunschvorstellungen bei der mündlichen Überlieferung. Gert Dressel hält diese Biographiearbeit dennoch für wertvoll. Der Historiker pflegt die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien. An seinem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte gibt es eine der ersten wissenschaftlich ausgerichteten Sammlungen von Familiengeschichte. Über die Erzählungen seiner Mutter aus der Nachkriegszeit bekam der in Deutschland aufgewachsene Dressel schon als Jugendlicher Zugang zur Verbindung von Familien- mit Zeitgeschichte.

 

Gert Dressel:

Meine Mutter, 1930 geboren, und als ich so zehn, elf Jahre alt war, habe ich immer noch so das Bild vor Augen, wie ich meiner Mutter gegenüber sitze, und sie hat permanent das Bedürfnis über die Jahre 44/45 zu sprechen, als sie 14, 15 Jahre alt war, so in einem Vorort von Siegen, Industrieort, Bergbau, war dann 45 auch die Front, dass sie acht Tage im Stollen verbracht hat ohne Essen, ohne Trinken, oder ich habe das so in Erinnerung, dass sie das so erzählt hat. Genauso wie ich in Erinnerung habe, dass sie erzählt hat, wie sie mitbekommen hat, wie damals fast gleichaltrige 16-17-Jährige von der Wehrmacht desertiert sind und hingerichtet worden sind. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob sie das wirklich gesehen hat, oder ob sie das damals nur gehört hat. Das hat mich sehr geprägt diese Geschichten, also wie stark auch Zeitgeschichte, Nationalsozialismus, Krieg in der Familie drin ist. Es hat mich aber auch geprägt von der Haltung her, von der Methode.

 

Diesen Ansatz, persönliche Erlebnisse als historische Quelle zu nutzen, greift der Karlsruher Geschichtsprofessor Rolf-Ulrich Kunze auf. Er engagiert sich für eine andere Art der Geschichtsforschung an der Universität. Weg vom reinen Auswerten harter Fakten hin zur Arbeit mit Lebensgeschichten.

 

Rolf-Ulrich Kunze:

Lange Jahrzehnte hat die Zeitgeschichtswissenschaft insbesondere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen vor allen Dingen vor den Kopf gestoßen und ihnen gegenüber die Nase sehr hochgetragen und signalisiert, dass man eigentlich mit ihren Subjektivismen, mit ihren Entschuldigungen für dieses und jenes eigentlich gar nichts anfangen kann, dass sie das mal besser für sich behalten.

 

 

Laura Dötschel:

Natürlich hat das auch so bisschen was mit Identität. Ich will einfach gerne wissen, gerade wenn man so Bilder hat, wer das ist. Ich habe als Kind viel in alten Bilderalben oder alten Kartons gewühlt, wo noch Bilder drin sind und wollte einfach wissen, wer diese Leute sind. Diese Neugier, wer bin ich, wer sind wir? Wir, das kann jetzt die Familie sein, das kann jetzt aber auch ein ganz Großes, die Deutschen, die Welt, die Menschen, damit man weiß, wo man herkommt.

 

Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht weiß, woher man kommt? Dieser Frage geht die junge Geschichtsstudentin Laura Dötschel in ihrer Familie nach – Antworten erhält sie zunächst keine. Es sollte noch einige Zeit dauern, bis sie dem Familiengeheimnis auf die Spur kam.

 

Laura Dötschel:

Jahre später kam uns ein Brief ins Haus geflattert. In gebrochenem Deutsch hat uns da jemand erklärt, dass er nach dem Tod seiner Mutter auch angefangen hat zu recherchieren. Weil seine Mutter wollte sich nicht groß äußern über die Vergangenheit und wollte nicht so erzählen, was sie alles in ihrem Leben gemacht hat. Und bei seinem Recherchen ist er dann darauf gestoßen, dass das meine Großmutter ist, die Karlsruhe verlassen hat und in die Niederlande gegangen ist und dort noch einmal eine Familie gegründet hat.

 

Neben dem, was in den Familien erzählt wird, gibt es in jeder Familie Ereignisse, über die nicht gesprochen wird. Diese Leerstellen in den Familienmythen sind es, die den Nachfahren häufig keine Ruhe lassen. Hat das Schweigen womöglich mit einer Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus zu tun? Die Vermutung liegt nahe und belastet.

Die gebürtige Karlsruherin Nora Krug widmet dieser Frage ein ganzes Buch. In ihrer Wahlheimat New York wird die ausgewanderte Designerin mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert. Bei der zufälligen Begegnung mit einer Holocoust-Überlebenden verspürt sie „Schuld“, ein Gefühl, das sie seit ihrer Kindheit begleitet, wie sie mir in einem Telefongespräch schilderte.

 

Nora Krug:

Ich glaube, das Buch war wirklich ein Wunsch, über dieses kollektive Schuldbewusstsein hinweg zu kommen. Also das war, finde ich, das Problem, dass wir, so habe ich das empfunden, mit diesem abstrakten Schuldgefühl groß geworden sind und mit dieser Kollektivschuld aber nicht mit einer individuellen Auseinandersetzung, das heißt also wir wurden nicht besonders ermutigt, jetzt in unsere eigenen Familien zu gehen und zu recherchieren oder mal zu recherchieren, was eigentlich mit unserer Heimatstadt während des Krieges passiert ist.

 

Angetrieben von der Sehnsucht nach der eigenen Geschichte macht sie sich auf den Weg. Zwei Jahre lang bereist Nora Krug die Heimatstädte ihrer Eltern, Karlsruhe und Külsheim, forscht in alten Briefen und Archiven, befragt Verwandte und Freunde der Familie. Die Ergebnisse dokumentiert sie in ihrem Buch „Heimat – ein deutsches Familienalbum“.

 

„Mein Onkel war für mich wie ein Fremder. Ich kannte niemanden, der ihn gekannt hätte. Krieg und Tod waren die einzigen Begriffe, die ich mit ihm verband. Da er als Soldat für Hitler gekämpft hatte, verstand ich schon früh, dass ich kein Recht hatte, Trauer über seinen vorzeitigen Tod zu empfinden...“

 

Wie tief war die eigene Familie in den Nationalsozialismus verstrickt? Auch Wolf Geck wollte es genauer wissen. 1939 geboren, hat er als Kind den Krieg noch selbst miterlebt.

 

Wolf Geck:

Wir als Kinder haben das gar nicht als so bedrohlich empfunden. Ich hab’s mehr als ein großes Abendteuer seinerzeit erlebt. Das war durchaus gefährlich, es gab dort auch Luftangriffe, lokale Luftangriffe auf Brücken, Straßen, die aber in den angrenzenden Wohngebieten auch viele zivile Opfer gefordert haben, auch ganz unserer Nähe mit teilweise schrecklichen Szenen.

 

Erst später beginnt der gelernte Jurist nachzuforschen. Wusste der Vater von den Gräueltaten der Nazis? Welche Überlebenschancen hatte er, ohne Mittäter zu werden? Immer wieder nagen Zweifel an Wolf Geck. Erst der Blick in die Archive bringt Gewissheit.

 

Wolf Geck:

Mein Vater war kein Nazi, er war nie in der Partei. Er war also kein Nazi, aber er hat natürlich auch keinen Widerstand geleistet weder aktiv noch passiv, sondern er wurde eben unversehens immer stärker kleines Teilchen in der Kriegswirtschaft.

 

Ähnlich ergeht es der Illustratorin Nora Krug. Ihr Buch, eine Collage aus handgeschriebenen Texten, Briefen, Fotos und Zeichnungen führt den Leser über die eigene in unzählige deutsche Familiengeschichten hinein. Die Recherche bringt somit weit mehr zu Tage als eine Antwort auf die politische Einstellung der Vorfahren. Sie enthüllt auch den Grund für lange verschwiegene Trauer, Zerwürfnisse in der Familie. Sprachlosigkeit, Verlust und Tod, die der erste und der zweite Weltkrieg in den Familien hinterlassen hat. Die Folgen allein des 2. Weltkrieges: über 6 Millionen ermordete Juden, deutsche Soldaten als Kanonenfutter. Jeder zweite 20- bis 30-jährige deutsche Soldat stirbt. Der 2. Weltkrieg hinterlässt in Deutschland 1,7 Millionen Witwen und 2,5 Millionen Waisen.

 

Nora Krug:

Also ich glaube, diese Verbindung hat vorher noch niemand so richtig gemacht in meiner Familie, dass der Krieg eben auch zum Beispiel dazu geführt hat, dass ich meine Tante, also die Schwester meines Vaters, nie kennen gelernt habe, bis ich dann angefangen habe, an dem Buch zu arbeiten. Also, das ist auch, was mich sehr interessiert, zu erforschen, wie Krieg auf einer ganz persönlichen Ebene Spuren hinterlässt und wie Erinnerungen an den Krieg auch über Generationen hinweg vermittelt werden kann.

 

 

Die Erfahrung von Verlust, Gewalt, Schrecken und Scham führen zu dem, was später „kollektives Schweigen der 50er und 60er Jahre“ genannt wird. Trauma-Arbeit steckte seinerzeit noch in den Kinderschuhen. Zwar beobachteten Ärzte bei traumatisierten Soldaten aus dem 1. Weltkrieg das so genannte Kriegszittern. Gesellschaft und Medizin reagierten darauf aber ohne jedes Verständnis, die Soldaten galten als Drückeberger. Erst mit dem massenhaften Auftreten traumatypischer Symptome bei den Veteranen des Vietnamkrieges wurde die heute als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnete Krankheit anerkannt. Den Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung brachte der erste Kriegskinderkongress 2005. Seither ist Trauma-Arbeit auch aus der heutigen Flüchtlingsarbeit nicht mehr wegzudenken.

Der Umgang mit unserer Vergangenheit mag individuell verschieden sein. Man kann sie ablehnen oder annehmen, sie gut verschließen oder darüber sprechen. Sicher aber ist: Es sind Zeiten und Personen, die das eigene Leben geprägt haben. Insofern kommt niemand um einen Umgang mit seiner Geschichte herum. Laura Dötschel, Nora Krug und Wolf Geck hat die Beschäftigung mit der Familiengeschichte inneren Frieden geschenkt.

 

Laura Dötschel, Nora Krug, Wolf Geck:

Ich glaube, es ist eine hohe Emotionalität, die eine Grenze bildet, um sich da so löchern zu lassen…

Mich macht das sehr vorsichtig. …

Ich hab das Gefühl, dass ich meine Verantwortung übernommen habe, und das hat schon zu einem Gefühl der Befreiung geführt...

Ich wär‘ der letzte, ihm da etwas vorzuwerfen. Denn ich bin kein Held. Und ich wäre nie auf die Idee gekommen, meinem Vater vorzuwerfen, dass er auch kein Held war.

 

Die Schuldfrage und wie gehen wir damit um, belastet die deutsche Gesellschaft bis in die Gegenwart. Gerade heute am internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust bleibt sie nicht aus. Und sie spart auch nicht uns Nachgeborene aus, die den 1. und 2. Weltkrieg nicht erlebt haben. Auch nicht die Migrantinnen und Migranten, die inzwischen hier leben. Die deutsche Schuld spielt bis heute eine große Rolle. Die türkischstämmige Historikerin Suzann Stutz erinnert sich noch gut an ihre Schulzeit.

 

Suzann Stutz:

Es war im Deutschunterricht, wir sollten 'ne Art Erörterung schreiben mit der Frage, inwiefern sind wir schuldig und wie gehen wir mit dieser Schuld um. Und ich habe mich natürlich geweigert, überhaupt von Schuld zu sprechen, nicht nur weil ich Türkin war, sondern weil wir auch ne bunte Klasse waren, in Anführungszeichen. Damals hat man ja nicht über Migrationshintergrund gesprochen, sondern wir waren einfach Ausländerkinder.

 

Inzwischen sieht die Mutter eines 15-jährigen Sohnes das anders. Ihr macht es Sorge, wie heute unbedarft Hitlerwitze gerissen werden, rassistische Liedtexte mitgesungen und Menschen pauschal wegen ihrer Herkunft verurteilt werden. Gerade mit Blick auf diese Entwicklung setzt Suzann Stutz auf Kommunikation und Aufklärung.

 

Suzann Stutz:

…Im Nachhinein muss ich sagen: Es war ne Chance, sich damit auseinanderzusetzen. … Wichtig ist, zu erkennen, dass am Ende die Menschlichkeit im Vordergrund stehen muss.

 

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Music Box, Philip Glass – The Music of Candyman
  2. Bearded Lady, Ensemble, Time Traveller
     
13.12.2018
Susanne Lohse