Advent, Advent!

Advent, Advent!

Gemeinfrei via unsplash.com (Vladimir Fedotov)

Advent, Advent!
Wie Gott eigentlich empfangen?
01.12.2019 - 07:05
13.06.2019
Jean-Félix Belinga Belinga
Über die Sendung:

Die Botschaft des Advent sagt: Gott will in die Welt kommen.  Paul Gerhardt stellt die Frage des Advent: Wie soll ich dich empfangen? Es gibt eine Frage vor der Frage. Woran werde ich dich erkennen?

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Sendung nachlesen:

„Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer.“ (Sacharja 9,9)

„Wie soll ich dich empfangen?“

Es sind solche Worte und in besonderer Weise Melodien, die mich unwiderruflich auf die Adventszeit einstimmen. Für viele mögen es die Weihnachtsmärkte sein, die in ihnen einen ähnlichen Effekt auslösen. Für andere sind es vielleicht die vielen Lichter, die unsere Straßen, Häuser und Gärten in flackernde Lichtermeere verwandeln. Menschen setzen sehr viel Fantasie ein, wenn sie die vorweihnachtliche Zeit einläuten. Und der Effekt ist nach wie vor verblüffend: Der graue, ja dunkle, oft trauerverhangene Herbst kann nicht dagegen halten. Widerstandslos wird er in die Vergessenheit verdrängt. Und diese Rituale wiederholen sich Jahr für Jahr. Sie führen viele unbeirrt in die geliebte Adventszeit hinein.

 

(Musik: Wie soll ich dich empfangen)

 

Ein Adventslied wie dieses rührt mich emotional an und besitzt tatsächlich die Macht, mich sanft, aber entschieden in die nächste Phase des Jahres zu leiten. Weil der Advent jetzt dran ist, lasse ich mich von einer Tradition mitnehmen, die mich die Tiefe meiner christlichen Identität spüren lässt. Als Mitglied einer größeren Familie blicke ich besonders gerne voraus auf die Weihnachtszeit und schmiede stimmungsvolle Pläne, wie meine Frau und ich mit unseren Kindern und Enkelkindern die nächsten drei Wochen verbringen werden. Wo platzieren wir gemeinsame Zeiten und wie werden wir sie verbringen? Freudige Erregung kommt auf, wir rücken als Gemeinschaft zusammen und es macht besondere Freude, miteinander diese Stimmung auszukosten. Und weil ich feststelle, dass die Gesellschaft als ganze in eine andere Atmosphäre hineingleitet, fühle ich mich mit Massen von Menschen verbunden. Das empfinde ich als Halt, der mir Sicherheit und Standfestigkeit im vorweihnachtlichen Alltag verleiht.

Adventslieder sind aber in erster Linie Lieder. Das sind Melodien, die mit Texten zum Singen versehen sind und diese Texte sind häufig kunstvoll gedichtete Aussagen. Der Choral „Wie soll ich dich empfangen“ zum Beispiel basiert auf einem zehnstrophigen Gedicht, das Paul Gerhardt im 17. Jahrhundert schrieb. Das Lied wurde im Jahr 1653 erstmalig veröffentlicht. Paul Gerhardts Gedicht ist ein Kunstwerk. Es bringt nicht einfach nur die Frömmigkeit seiner Zeit zum Ausdruck. Man muss diesen Text zuerst als individuelles Zeugnis betrachten. Er spiegelt eine sehr persönliche Beziehung zu Gott, der hier als direktes Gegenüber des Menschen erscheint. Denn die Frage richtet sich an Gott selbst, der, obwohl schon immer da, doch auch als Gast betrachtet und im Advent erwartet wird: Wie soll ich dich in meiner Welt willkommen heißen? Und dann tauchen so wunderschöne Bilder auf wie „Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis“ oder „Nichts hat dich getrieben, zu mir vom Himmelszelt als das geliebte Lieben.“ Bilder, aus denen die Strahlkraft eines großen Dichters wie ein Stern aufleuchtet. Ja, ich will meine Begeisterung nicht verbergen. Die Dichtkunst Paul Gerhardts hat mich gefesselt und ich lasse mich aufs Neue mitnehmen.

 

Paul Gerhardts Gedicht fasziniert mich ohne Zweifel. Dennoch empfinde ich auch eine gewisse Irritation angesichts seiner Worte. Der Dichter eröffnet sein Werk mit der Frage: „Wie soll ich dich empfangen?“ Ich höre die Stimme eines Menschen, der seinen Gast, den es zu empfangen gilt, wohl kennt. Und das klingt bei Paul Gerhardt durchaus authentisch. Denn dieser große Theologe und Dichter verstand es wie kaum ein anderer, Gottes Gegenwart im Laufe seiner eigenen Biografie zu identifizieren. Seine Texte widerspiegeln einen Gott, der ihm offenbar nie von der Seite gewichen ist. Nicht, als im dreißigjährigen Krieg seine Geburtsstadt Gräfenhainichen völlig niederbrannte und Pauls Elternhaus, in dem auch sein Bruder wohnte, von den lodernden Flammen ausgemerzt wurde; nicht als kurz danach die Pest durch das Land wütete und Paul Gerhardt den schmerzhaften Tod seiner Nichte und seines Bruders erlebte. Er musste vier seiner fünf Kinder sowie seine Frau nach nur dreizehn Jahren Ehe beerdigen. Und als er durch den Kurfürst aus dem Pfarrdienst entlassen wurde, musste er sich ohne Einkommen durch das Leben schlagen. Aber trotz dieser und einiger weiterer Krisen seines Lebens kommt in seinen Texten immer durch, dass Gottes zuverlässige Gegenwart seine Kraftquelle blieb. Ein Gottvertrauen, das nicht nur Hoffnung ausdrückt, sondern das vor allem bezeugt, wie Paul Gerhardt sich dessen bewusst war, mit wem er sprach, wenn er sich Gott zuwendete.

Ich stelle nun aber fest, dass sich bei mir eine andere Frage in den Vordergrund drängt, wenn ich am heutigen ersten Advent über Gottes Kommen nachdenke. Ich frage mich nicht „Wie soll ich dich empfangen?“, sondern meine Frage führt mich einen Schritt zurück. Zu groß ist meine Angst, den Gast nicht einmal zu erkennen, wenn er vor meiner Tür stehen sollte. Deswegen kommt bei mir zuerst die Frage: Wie soll ich dich erkennen? Hast du ein Erkennungszeichen für mich? Unsicher bin ich, ob er dieses Mal wieder in Bethlehem auf die Welt kommt. Und wenn ja, ereignet sich seine Ankunft dieses Mal auch wieder nach dem damaligen Muster, das sich in unseren christlichen Traditionen so schön und farbenfroh ritualisiert hat? Da ist der Aufbruch des Zimmermanns Josef mit der hochschwangeren Maria; die weite Reise nach Bethlehem; die Suche nach einer Herberge; die Geburt im Stall; die Benachrichtigung der Hirten; der Jubel des Engelschores und viele weitere markante Ereignisse, die jene wundersame Nacht so einzigartig und bedeutsam machen.

Gottes freies und souveränes Handeln hat sich an diese Geschichte gebunden und lässt seine Menschwerdung in diesem mittlerweile so vertrauten, weil lang tradierten Bericht alle Jahre wiederaufleben. Er wählte einst ein Kommen, bei dem er unerkannt die Gestalt jenes kleinen Kindes annahm. Das kleine Kind im Stall, ohne Schutz, ohne Pracht, ohne Prunk. Diese Bilder jedoch, die uns zu wunderbaren Deutungen inspirieren, drohen, sich in uns fest zu setzen und unveränderbar zu werden. Hier frage ich mich tatsächlich: was ist, wenn er in eben diesem freien und souveränen Handeln entscheidet, anders zu kommen? Überhaupt: Kommt er nicht andauernd schon anders? Etwa in der Gestalt eines Obdachlosen, an dem ich vorbei gehe? In der Gestalt eines Kindes, das seine schreiende und klagende Stimme erhebt und die ihm angetane Gewalt und das Unrecht nicht begreifen kann? In der Gestalt eines erschöpften Menschen auf der Flucht, der um ein Überleben vor meiner Tür kämpft? Jesus könnte uns heute völlig überraschen. Er könnte in einem der unterdrückten und diskriminierten Völker wie dem der Dalits in Indien zur Welt kommen. Er könnte heute in Chile mitten in einer bewaffneten Auseinandersetzung auf die Welt kommen. Oder warum nicht unter den in Angst lebenden Menschen in Kongo? Die Sorge, der souverän handelnde Gott könnte in einer Gestalt ankommen, in der ich ihn nicht vermute, in der ich ihn leicht übersehen würde, ist in mir groß. Deswegen würde meine erste Frage lauten: Wie soll ich dich erkennen, um dich gebührend empfangen zu können. Es wäre zugleich eine Bitte.

 

Paul Gerhardt beschreibt sehr genau, auf welche Erscheinung Gottes er wartet. Er zeichnet ein Bild Gottes, das voll Spannung ist. Die Eingangsfrage „Wie soll ich dich empfangen und wie begegne ich dir?“ löst bei mir zunächst Assoziationen aus, die eher mit unseren eigenen Bräuchen zu tun haben. Wenn wir einen geliebten Gast erwarten, ist es wichtig, dass wir die Wohnung erst einmal auf Vordermann bringen. Blumen in passenden Vasen dekorieren den Wohnzimmertisch oder auch schon den Flur; aufgeräumt muss es sein und wir wollen ein besonderes Gericht zubereiten, einen guten Wein ausschenken. Mit diesen Assoziationen jedoch liege ich sicher fern von Paul Gerhardts Vorstellungen. Die Frage, wie der Empfang sein soll, beantwortet er zwar mit einer prunkvollen Darstellung: „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin.“ Beim aufmerksamen Lesen zucke ich zusammen, denn dieser Prunk ist der Passionsgeschichte Jesu entliehen. Paul Gerhardt antwortet hier mit der Leidensgeschichte Jesu so, wie sie im Matthäusevangelium dargestellt wird. Die Menschen säumen die Straßen, als Jesus in Jerusalem einzieht, sie streuen Palmen. Doch wir lesen auch bald danach, dass eben dieser begeistert empfangene Jesus gefangen genommen, verurteilt und gekreuzigt wird. Das unmittelbare Zusammenlegen von Bildern, die Spannung erzeugen, geschieht bereits in der ersten Strophe: Die Ausgangsfrage „Wie begegne ich dir?“ steht noch unkommentiert im Raum, und schon taucht unverhofft das Bild der Fackel auf, das an die klugen und törichten Jungfrauen aus Matthäus 25 erinnert. Von ihnen erzählt Jesus in einem Gleichnis. Vor dem Fest ziehen die Jungfrauen dem Bräutigam entgegen, um ihn zu empfangen. Nur haben die törichten leider nicht daran gedacht, für ihre Öllampen eine Reserve an Öl mitzunehmen. Die klugen jedoch tun es, und als der Bräutigam sich verspätet, haben sie genug Öl, um ihr Licht lang genug leuchten zu lassen. So können sie ihn begleiten und das Hochzeitsfest mitfeiern. „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin.“

 

Offenbar weist mich Paul Gerhardt mit solchen Anspielungen darauf hin, dass der geliebte König, den ich empfangen will, nur dort zu begegnen ist, wo ich seine Passion, seine Leidensgeschichte bejahe. Er will meinen Blick auf das Kreuz lenken, eben um mich zu erinnern, dass dieser König nicht nur mit Glanz, sondern zuerst mit seiner Dornenkrone wahrgenommen werden will. Gerade dieser Aspekt wird dort noch plausibler, wo Paul Gerhardt seine ganz persönliche Antwort auf die Palmen gibt, die die Straßen in Jerusalem einst säumten. Er schreibt: „Ich will dir in Psalmen ermuntern meinen Sinn.“ „Mein Herze soll dir grünen in stetem Lob und Preis.“ Ja, der Dichter setzt seinen persönlichen Akzent auf diese Begegnung: Ein großer Aufwand ist es wohl nicht, womit ich den gebührenden Empfang für Gott gestalten kann. Für Gott reicht mein Dank offensichtlich vollkommen. Und so wird das Gedicht immer mehr zu einem Dankgebet für mich. Der sich selbst offenbarende Gott ist es, der in meine Finsternis Licht bringen kann. Er ist es, der sein Leiden nicht zu einem historischen Fakt macht, um es besser hinter sich lassen zu können. Nein, sein Leiden ist Teil seines Wesens, und deswegen findet er auch seinen Platz mitten in meinem Leben. Paul Gerhardt nimmt mich hier in eine Erfahrung hinein, die ihn sein ganzes Leben begleitet hat. Furcht, Bangen und Trauer haben sein Leben geprägt. Und er scheint einen Gott gekannt zu haben, der nie von ihm gewichen ist, einen Gott, der gerade im Leid unverkennbar sein Vertrauter geblieben ist, und ihn mit viel Liebe und mit Kraft begleitet hat.

 

Wie soll ich dich empfangen, und wie begegne ich dir? Je länger ich mich mit diesen Worten Paul Gerhardts beschäftige, desto stärker kann ich mich mit ihnen identifizieren. Das spannungsvolle Bild Gottes wird mir vertrauter. Ich kann besser die Frage wiederholen, denn die Antworten, die Paul Gerhardt Gott in den Mund legt, bringen mir Gott näher und ich habe das Gefühl, dass ich mich auch zaghaft trauen kann, ihn zu empfangen.

Vor allem die fünf ersten Strophen dieses herrlichen Gedichts offenbaren mir einen Gott, der stets neben dem Menschen Paul Gerhardt seinen Platz hat. Seine Ängste in einer schwierigen Zeit, seine Sorgen, seine Hoffnungen werden zu Erfahrungen, die er unmittelbar mit Gott teilt. „Was hast du unterlassen zu meinem Trost und Freud, als Leib und Seele saßen in ihrem größten Leid?“, heißt es in der dritten Strophe. Und weiter in der vierten: „Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los; ich stand in Spott und Schanden, du kommst und machst mich groß und hebst mich hoch zu Ehren und schenkst mir großes Gut“. Und diese so sanft gezeichneten Linien entlang der eigenen Biografie machen die Gotteserfahrung zu einem großen Gut, das mitten im Leben seinen Platz hat. Paul Gerhardt kennt nur eine Reaktion darauf: sein Dankgebet wird zur angemessenen Form, Gott gebührend zu empfangen. Es ist fraglich, ob der Mensch Gott überhaupt mehr bieten kann. Wenn ich erkenne, dass Gott es ist, der mir die Fackel, also das Licht gibt, um seine Ankunft zu beleuchten. Darin steckt zugleich die Einsicht, dass es Gottes Gnadengeschenk ist, ihn zu erkennen. Hiermit bleibt Gott der souverän Handelnde in der Begegnung mit dem Menschen. Gott gab Paul Gerhardt Trost, er schenkte ihm Hoffnung, er schenkte Liebe und Güte und erinnerte den Theologen und Dichter damit an sein Menschsein. Aber er sagte ihm gleichzeitig, dass auch er selbst, der Gott, der zu den Menschen kommt, damit Mensch wird und am Schicksal seines Ebenbildes teilhaben will.

Die von Paul Gerhardt empfundene Dankbarkeit, seine ihm geschenkte Erleuchtung gibt er an die Gemeinde in den letzten fünf Strophen weiter. Seine Worte werden zu einem lebendigen Zeugnis: „Er kommt mit Willen und ist voller Lieb und Lust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst.“ Eine Einladung, Gott im eigenen Leben, im irdischen Schicksal zu erkennen. Und sich darin mit vielen anderen verbunden zu wissen. Als „hochbetrübtes Heer, bei dem Gram und Schmerz sich häuft je mehr und mehr“, soll die Gemeinde wissen, dass Hilfe nahe ist, dass der Tröster mitten unter ihr steht.

Diese Erkenntnis möge in der Adventszeit weiterwirken. Den Advent verbringen sicher viele dieses Jahr wieder mit Lichtern, in aufgehellter Atmosphäre und Gemütslage, daneben aber auch in gedämpfter, bedrückter Stimmung. Die ist weit verbreitet und viele bestätigen ein Lebensgefühl, das besagt: Unheilvolle Ängste, Sorgen und Ungewissheiten prägen unsere Gegenwart. Unsicher klammern wir uns an den Augenblick. Finstere Wolken verdunkeln die Zukunft. Wir suchen Orientierung und Unruhe breitet sich aus. Soziale Zwänge, die wir nicht ändern können, machen uns zu Gefangenen. Wo? Wie sollen wir Gott jetzt empfangen? Für mich ist gerade da die Haltung genau richtig, die der Theologe und Dichter Paul Gerhardt mir vorgibt, besser gesagt: mir vorlebt: „Jesu, setze mir selbst die Fackel bei, damit, was dich ergötze, mir kund und wissend sei.“ „Ihr habt die Hilfe vor der Tür.“ „Er kommt, er kommt mit Willen, ist voller Lieb und Lust, all Angst und Not zu stillen, die ihm an euch bewusst.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

  1. Wie soll ich dich empfangen, Thomaner Chor Leipzig – Torsten Laux, Orgel, Paul Gerhardt – Die großen choräle und Geistlichen Lieder
  2. Wie soll ich dich empfangen?, Daniel Masuch, Traces of light
  3. Wie soll ich dich empfangen (instrumental), Ralf Hübner, Thomas Wahl, Wie soll ich dich empfangen?
  4. Wie soll ich dich empfangen, Blechbläserensemble Ludwig Güttler, Vom Himmel hoch, da komm ich her
13.06.2019
Jean-Félix Belinga Belinga