Lieder helfen

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Lieder helfen
26.12.2023 - 07:05
03.07.2023
Reinhold Truß-Trautwein

von Pfarrer Reinhold Truß-Trautwein

Über die Sendung:

Nach dem kurzen Advent ist heute bereits der zweite Weihnachtstag. Umso intensiver lässt unser Autor Reinhold Truß-Trautwein Weihnachten erklingen und erzählt, wie Weihnachtslieder wirken und was seine Lieblingsstücke sind. 

Der "Feiertag" im DLF zum Nachhören und Nachlesen.

 
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Was wäre Weihnachten ohne Weihnachtslieder? Und noch mal größer gefragt: Was wäre die Welt ohne Musik; oder mein Leben ohne Melodien? Zum Glück muss man sich das gar nicht ausmalen. Es gibt sie ja. So zu fragen bedeutet, mal innezuhalten und sich klarzumachen, was für ein Riesenschatz sie sind, Musikstücke, Melodien, Lieder - und da natürlich besonders die persönlichen Herzstücke. Ja, was wäre das Leben ohne sie; was wären wir ohne sie? Eine prominente Version dieser Frage stammt von der schwedischen Band ABBA, aus dem Jahr 1977: (Thank you for the music)

 

Da schließe ich mich voll an: Ja, danke für die Musik! Und das heißt heute für mich vor allem: Danke für die Weihnachtslieder! Denn durch die wird es bei mir erst so richtig Weihnachten. Natürlich braucht es dazu immer auch die vertraute Erzählung, die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium; ich brauche sie, die heilige Wiederholung, von „Es begab sich aber zu der Zeit…“ bis „… wie denn zu ihnen gesagt war“ (Lukas 2,1.20). Doch diese wunderbare Erzählung und besonders die zentrale Botschaft der Engel, „euch ist heute der Heiland geboren“, die verlangen danach, Klang zu werden, Gesang und Musik. Mit ihren Mitteln können sie die Bedeutung der Worte wirklich entfalten und Herzen bewegen.

Martin Luther muss das seinerzeit so ähnlich empfunden haben. Jedenfalls hat er gleich eine ganze Handvoll Weihnachtslieder geschrieben. Bei dem bekanntesten stammt nicht nur der Text, sondern auch die Melodie von ihm. ( „Vom Himmel hoch“ (1.2.6))

Das Lied hat insgesamt 15 Strophen. Luther hat darin eine Art gesungenes Krippenspiel entwickelt mit verschiedenen Rollen und Stimmen: Zuerst kommt der Engel, dann die Hirten; und dazu gesellen sich diejenigen, die jeweils in ihrer Zeit aktuell mitsingen. Die Weihnachtsbotschaft wird ausgebreitet und variiert, sie bekommt viel Resonanzraum, sozusagen.

So merket nun das Zeichen recht: die Krippe, Windelein so schlecht, da findet ihr das Kind gelegt, das alle Welt erhält und trägt. 

Ach Herr, Du Schöpfer aller Ding, wie bist du worden so gering, dass du da liegst auf dürrem Gras, davon ein Rind und Esel aß! (Strophe 9)

 

Die Idee bei dem Lied war, dass man sich die Strophen gegenseitig zusingt und den eigenen Part mit den anderen teilt. Auf diese Weise kann sich die Bedeutung von Weihnachten schön weit auftun und die Herzen berühren: Jesus ist geboren, Gott kommt hinein in die Welt, will unser menschliches Leben teilen, hautnah, herznah. Weihnachten erleben, dazu kann ein Lied viel beitragen; Singen hilft da einfach.

Martin Luther hat generell sehr viel vom Singen gehalten und öfter in den höchsten Tönen davon gesprochen, programmatisch in der Vorrede zum Wittenberger Gesangbuch 1524:

 

Dass geistliche Lieder singen gut und Gott angenehm sei, meine ich, sei keinem Christen verborgen. […] Demnach hab ich auch, samt etlichen andern, zum guten Anfang und um denen Ursache zu geben, die es besser vermögen, etliche geistliche Lieder zusammengebracht, das heilige Evangelium […] zu treiben und in Schwang zu bringen… (1)

 

„In Schwang bringen“ darum geht’s beim Singen und in der Musik. Auch Martin Luther hat öfter gesagt „Thank you for the Music“ - natürlich in seiner Sprache:

 

Meine Liebe zur Musik, die mich öfters erquickt und von großer Seelenpein befreit hat, ist über die Maßen groß und sprudelt so heraus. (2) 


Die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich. (3)

 

 

Bei manchen Stücken zeigt sich eine wunderbare Sache: Man kann singen, ohne zu singen. Einfach, indem man in eine Musik hineingeht; oder besser gesagt, indem man eine Musik in sich selbst hineingehen lässt. Man merkt dann, wie sie einen   durchströmt und sogar ganz ausfüllen kann, tatsächlich von Kopf bis Fuß. Eine Melodie besänftigt mich und lässt mich zur Ruhe kommen; oder sie beschwingt mich und bringt mich auch mal auf Trab, je nachdem. Ein bisschen pathetisch oder auch mystisch ausgedrückt: Es singt in mir.

Ohne den Mund aufzumachen, spüre ich schon etwas von den heilsamen Wirkungen, die vom Singen ausgehen: Der Atem fließt besser, eine Anspannung lockert sich. Erst recht, wenn ich dann tatsächlich anfange zu singen.

Was man unmittelbar wahrnehmen kann, wird bestätigt von vielfältiger Forschung. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Fachgebiete beschäftigen sich mit den Phänomenen, die mit dem Singen verbunden sind. Der Oldenburger Musikwissenschaftler Gunter Kreutz hat da viele interessante Dinge   zusammengetragen. Es gibt zum Beispiel in mehreren Ländern Studien dazu, wie gemeinsames Singen die Lebensqualität älterer Menschen mit Demenzerkrankungen verbessert. Lieder haben sich fest eingeprägt, auch wenn vieles andere vergessen ist.  Ein zweites Beispiel: Britische Forscher haben eine Verknüpfung zwischen dem Singen und der Ausschüttung körpereigener Opiate zeigen können - ähnlich wie bei dem aus der Sportwissenschaft bekannten Runner’s High gibt es eine Art Singer’s High.


Auf verschiedenen Gebieten gibt es viel Neues zu vermelden, schreibt Gunter Kreutz und fasst zusammen:

Die Erkenntnis, dass gemeinsames Singen eine allgemein stressmindernde und bindungsfördernde Wirkung hat, setzt sich allgemein durch. (4)

Für viele findet gemeinsames Singen ja nur oder vor allem bei Geburtstagsfeiern oder eben an Weihnachten statt. Immerhin. Wie gut, wenn sich dann in diesen oft doch vielschichtigen Situationen die Erkenntnis bestätigt: „stressmindernd und bindungsfördernd“; wenn man sagen kann: Lieder helfen.

Dem Musikwissenschaftler Gunter Kreutz liegt das Chorsingen besonders am Herzen.

Chöre verschaffen Menschen einen dauerhaften Platz inmitten der Gemeinschaft – und zwar nicht als abstrakte Idee, sondern als mindestens wöchentlich gelebte Wirklichkeit. (5)

 

Chormitglieder können beschreiben, welche Rolle das regelmäßige Singen für sie spielt und wie es sich positiv auswirkt - im Blick auf Entspannung und Wohlbefinden, Atmung und Körperhaltung, soziale Gemeinschaft, Emotionen und Spiritualität.

Bei manchen Chören haben solche Aspekte eine gesteigerte Bedeutung.

Im Berliner Wedding trifft sich alle zwei Wochen der Aphasikerchor Berlin zum Proben. Bei den Schlaganfallpatienten und -patientinnen ist das Sprachvermögen eingeschränkt, aber Lieder singen, das geht gut. Einen großen Auftritt hatte der Chor Ende November bei der Feier zum 30. Geburtstag der Deutschen Schlaganfall-Hilfe – mit „Amazing Grace“ und „Die Gedanken sind frei“.

Im israelischen Jaffa gibt es den Frauenchor Rana. Die Hälfte der Sängerinnen ist jüdisch, die andere arabisch – das Ganze multireligiös, also muslimisch, jüdisch und christlich.16 bis 20 Frauen singen gemeinsam Lieder aus den verschiedenen Kulturen, inmitten von Bedrohung und Gewalt, gegen Bedrohung und Gewalt - ein wichtiges Zeichen und mehr als das: ein Stück andere Wirklichkeit, Gegenwirklichkeit.

Beide Chöre, der in Jaffa und der in Berlin, zeigen mir, welche Qualität und welche Energie im gemeinsamen Singen steckt; es ist immer auch die des Trotzdem. In diesen aufgewühlten Zeiten schwingt die Energie des Trotzdem überall mit, wo Menschen jetzt ihre Weihnachtslieder singen – mal mehr, mal weniger.

Und schon in der Adventszeit war sie deutlich zu spüren in den Gottesdiensten und auch in den zahlreichen Mitsingkonzerten.

 

Gottesdienste und besonders auch Mitsingkonzerte schaffen gute Gelegenheiten, die eigene Singstimme ins Spiel zu bringen - nicht nur, aber vor allem natürlich in der Advents- und Weihnachtszeit. Da warten viele Lieder darauf, dass man sie hervorholt und wieder zum Leben erweckt. Und da warten viele Menschen darauf, dass vertraute Lieder sie neu berühren und sie ein Stück tragen. Es ist sozusagen die Zeit der heiligen Wiederholungen.

In anderer Form sind solche Wiederholungen zum Glück das ganze Jahr über möglich. Lieblingsmusik und Herzstücke begleiten einen ja kontinuierlich durch die Zeit, oft durch Jahre hindurch und manchmal ein Leben lang. Das kann ein Popsong sein oder ein Choral, eine Sonate oder ein Stück Filmmusik, je nachdem. Man hört das und merkt, wie es aufs Neue ganz präsent ist und einen direkt bewegt. Man summt eine Melodie oder singt ein Lied und spürt: Damit geht es gleich etwas leichter; ich selbst werde ein Stück leichter.

Wenn ich kurzatmig und gehetzt bin, dann singe ich auf dem Weg zur Arbeit auf
dem Fahrrad immer [Ihre] Gesänge aus Taizé; und zwar immer in einem Rhythmus,
der zu meinem Atem passt.
(6)

 

Kurz vor dem Ersten Advent hat das jemand in einem Interview im Deutschlandfunk   gesagt. Für viele in meinem kirchlichen Umfeld spielen diese Gesänge und Lieder   eine wichtige Rolle. Sie stammen aus der Kommunität von Taizé, einem Dorf in Burgund, in der Nähe von Cluny. Seit der Gründung der ökumenischen Gemeinschaft vor gut 80 Jahren zieht es viele Menschen aus Europa und der ganzen Welt dorthin, vor allem Jugendliche und junge Erwachsene. Sie sind für eine Woche oder auch mal für länger in Taizé, um miteinander zu reden, zu beten und zu singen. Und die meisten nehmen von dort etwas mit, besonders eben Lieder und Gesänge. In vielen Gemeinden gibt es regelmäßige Taizé-Gottesdienste oder
-Andachten. Die Melodien sind eingängig und dabei tiefgehend, ebenso die kurzen Texte, die in verschiedenen Sprachen verfasst sind. Die Lieder leben von der Wiederholung und entfalten durch sie ihre spirituelle Kraft, die einen berührt und umhüllt - eine Art gesungenes Mantra, wie ein Mantel, in den man sich einmummelt; oder in einer anderen Jahreszeit: wie sanfte Wellen, die einen umspielen und hochheben.

Für mich sind einige dieser Gesänge schöne Beispiele dafür, wie Lieblingsmusik und Herzstücke allgemein beschaffen sind und wie sie wirken; besonders die, in die ich selbst mit einstimme, in die ich mich hineinlege.

 

Die Adventszeit war in diesem Jahr die kürzest mögliche. Da möchte ich das Ganze noch etwas länger weiterklingen lassen. Die Vorbereitung auf Weihnachten beginnt für viele am Sonnabend vor dem ersten Advent; auch bei uns ist das so. Dann wandern die beiden schon etwas lädierten, aber immer weiter einsatzfähigen Sterne aus dem Keller nach oben an ihre festen Plätze. Der Karton voller CDs mit Advents- und Weihnachtsmusik kommt wieder ans Licht; und sein Inhalt ergießt sich in die Küche und ins Wohnzimmer. Inzwischen sind es gut 70; und jedes Jahr kommt mindestens eine neue dazu. Wir gehören noch zu der Generation CD…
Das Spektrum der Klangfarben ist bunt; da liegt Telemann direkt neben Jethro Tull; und ein bisschen Kitsch gibt es natürlich auch.   

Die Autorin Inken Christiansen aus dem Hamburger Andere Zeiten-Team hat berührend über das Lied „Nollaig Moon“ geschrieben, mit dem bei ihr der Weg in Richtung Weihnachten beginnt:

 

Dieses Lied umhüllt mich wie eine warme Decke […] Es klingt […] nach einem Weg, der in der Dunkelheit beginnt und sich Schritt für Schritt voller Vertrauen vorantastet. Musik, die mich trägt. Denn wenn ich sie höre, bin ich nicht mehr nur im Moment. Sie holt vergangene Jahre zurück, in denen sie mich begleitete, lässt Bilder auftauchen und öffnet mir die Tür zum Advent. (7)

Das Lied, mit dem für mich der Weg in die Weihnachtszeit beginnt, ist ein anderes als das von Inken Christiansen, aber ihre Worte kann ich mir unmittelbar zu eigen machen. Das wird vielen so gehen, denke ich. Auch mein Lied gibt es in einer Version, die sich vorantastet.

 

Ich brauche dieses Lied, damit mir weihnachtlich zumute wird; damit ich mich hineintaste in die heilige Zeit, in ihre Atmosphäre, die fragil ist und zugleich aufgeladen mit Zuversicht.
Manchmal kann ich ein Stück Weg Richtung Weihnachten ganz beherzt angehen, mit festen Schritten. Das klingt dann anders. Wie gut, dass es mein Lied in so vielen verschiedenen Versionen gibt.

 

„Tidings of Comfort and Joy“ - gute Nachrichten, die Trost und Freude bringen, nach denen sehnen sich in diesen Tagen viele. Das Besondere an diesem Weihnachtslied ist: Es taucht bei mir das ganze Jahr über immer mal wieder aus der Versenkung auf, im August zum Beispiel. Dann wird es für einen Moment zum Ohrwurm, den ich vor mich hin summe oder pfeife - mal eher vorsichtig, mal ziemlich beherzt. Nach einer ersten Irritation muss ich dann lächeln und denke: Ja, die Botschaften von Weihnachten sind ja auch welche für diesen Tag heute, für diesen Moment. Comfort and Joy – Trost und Freude. Beides brauche ich zu jeder Jahreszeit.

Unter meinen Lieblingsliedern und Herzstücken gibt es ein zweites Weihnachtslied, das mich ganzjährig begleitet. Es ist eins der neueren im Evangelischen Gesangbuch; mein verstorbener Schwiegervater Dieter Trautwein hat es geschrieben. Und da summe ich dann nicht nur die Melodie, sondern singe tatsächlich alle fünf Strophen vor mich hin, manchmal sogar in voller Lautstärke. Für mich ist es die Botschaft von Weihnachten fürs ganze Jahr, für diese und andere Tage.

 

Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht traurig sein!
Der immer schon uns nahe war, stellt sich als Mensch den Menschen dar.
Bist du der eignen Rätsel müd? Es kommt, der alles kennt und sieht!
Er sieht dein Leben unverhüllt, zeigt dir zugleich dein neues Bild.
Nimm an des Christus Freundlichkeit, trag seinen Frieden in die Zeit!
Schreckt dich der Menschen Widerstand, bleib ihnen dennoch zugewandt!
Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein!

(Evangelisches Gesangbuch 56, 1-5)

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

1. ABBA, „Thank you for the music“
2. Vocal Concert Dresden, „Vom Himmel hoch“ (1.2.6)
3. German Brass, Weihnachtsoratorium, Choral Nr. 23
4. Nils Landgren & Friends, „Ich steh an deiner Krippen hier“
5. Athesinus Consort Berlin, „O Heiland, reiß die Himmel auf“
6. Communauté de Taizé, Solist:innen und Gäste, „Bless the Lord“
7. Chilly Gonzales, „God Rest Ye, Merry Gentlemen“
8. Aimee Mann, „God Rest Ye, Merry Gentlemen“
9. Reinhard Börner, „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen“

Literatur dieser Sendung:

1. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Band 6: Kirche und Gemeinde
2. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Band 10: Briefe
3. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Band 9: Tischreden
4. Gunter Kreutz, Warum Singen glücklich macht
5. Gunter Kreutz, Warum Singen glücklich macht
6. Andreas Mein im Interview mit Frère Alois/Alois Löser, Sendung „Tag für Tag“ am 01.12.2023, Deutschlandfunk
7. Der 29. Andere Advent, Text zum 03.12.2023, Andere Zeiten Verlag Hamburg 2023

 

 

03.07.2023
Reinhold Truß-Trautwein