Aufgetaucht

Morgenandacht
Aufgetaucht
24.11.2021 - 06:35
15.09.2021
Pfarrer Titus Reinmuth
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Die Sendung zum Nachlesen: 

 

Nun sind wir also doch mitten in der vierten Welle. Wie aus dieser Krise wieder auftauchen? Viele hat es ja erwischt, auch ohne das Virus bekommen zu haben. Der Kellnerin ist gekündigt worden, der Facharbeiter macht Kurzarbeit, die Solo-Selbständige ist pleite. Und selbst wer im Homeoffice sitzt, merkt spätestens jetzt: Das Leben ist begrenzt. Es ist verletzlich. Will ich, wenn Corona vorbei ist, genauso weiterleben wie bisher? 

 

Neulich vor dem Einschlafen dieser Film. Es ging um eine Jugendgang in den Sommerferien, irgendwo in Südfrankreich an einem Fluss. Einer ist das erste Mal dabei, er wirkt etwas schüchtern. Dann gibt es diese eine Szene: Einer von den großen Jungs geht auf die hohe Brücke. Es sind vielleicht sechs oder acht Meter über dem Wasser. „Trau dich!“ rufen die andern. Und dann springt er. Macht sogar einen Salto und landet mit einem großen Klatsch im Wasser. Alle jubeln, als er wieder auftaucht und an Land schwimmt. Jetzt ist der Neue dran. Er will dazugehören. Das ist wohl eine Art Mutprobe. „Na los, jetzt du! Geh nach oben!“ Er geht, steht am Rand der Brücke, schaut nach unten, zögert. „Traust du dich nicht? Mach schon!“ Er guckt zu den andern, er guckt nach unten – und dann springt er. Das Wasser schlägt über ihm zusammen, die andern jubeln. Doch dann: Wo ist er? Er taucht nicht wieder auf. Die andern rufen seinen Namen, zwei springen ins Wasser, schwimmen zur Flussmitte, rufen, tauchen. Nichts. Dann zeigt ihn die Kamera am Flussufer, rechts, bestimmt 20 Meter weiter. Vorsichtig reckt er den Kopf aus dem Wasser. Er grinst. Ist einfach die ganze Strecke unter Wasser geblieben. Abgetaucht und wieder aufgetaucht. Kopfschütteln und Erleichterung, als die andern ihn sehen. Er hat’s geschafft. Und wie!

 

Diese Szene meldet sich bei mir nachts um halb eins zurück. Ich könnte etwas Schlaf gebrauchen. Aber mein Gehirn spült mir diese Bilder nach oben und sagt: Guck Dir das noch mal an! Ok, ich gucke. Und ich sehe mich vor meiner Krankheit, erinnere mich: An einem Freitag stehe ich morgens unter der Dusche und taste diese Schwellung. Was soll das sein? Ich habe Angst. Ich traue mich nicht, davon zu erzählen. Wir haben so schöne Pläne fürs Wochenende. Am Sonntagabend traue ich mich und erzähle von der Schwellung. Dann folgt alles Schlag auf Schlag: Das CT, die Operation, die Diagnose: Krebs. Behandelbar, sagt die Ärztin, immerhin. Aber erst mal ist die Krankheit da. Ich kann nicht mehr zurückgehen, kann nicht einfach runter von der Brücke zurück ans Flussufer. Ich kann nicht sagen: „Lass mal, ich will nicht, ich trau mich doch nicht.“ Ich muss springen. Ich muss Vertrauen haben. Es gibt keine andere Wahl.

 

Ein Satz aus der Bibel hat mir in dieser Zeit immer wieder Mut gemacht. Josua geht in eine ungewisse Zukunft. Gott sagt zu ihm: „Sei mutig und entschlossen! Hab keine Angst und lass dich durch nichts erschrecken; denn ich, der Herr, dein Gott, bin bei dir, wohin du auch gehst!“ (Jos 1,9). Darauf habe ich mich verlassen.

Und das ist die Verbindung zu dem Jungen auf der Brücke. Ein Sprung ins Ungewisse. Doch anders als im Film dauert dieser Sprung eine kleine Ewigkeit. Neun Monate Therapie, Strapazen, Gottvertrauen. Am Ende eine Reha. Ich kann mir überlegen, wo ich eigentlich wieder auftauchen will. Genau da, wo ich losgegangen bin? Alle jubeln: „Da bist du ja wieder! Toll, dass du es geschafft hast!“ Als wäre nichts gewesen?

 

Nein, ich nutze die Zeit. Ich tauche ab, denke nach, führe Gespräche. Muss das Leben so weitergehen? Genauso, wie es bisher war? Ich mache Schwimmzüge unter Wasser, ganz für mich allein. Und dann, wenn ich so weit bin, tauche ich wieder auf. Anderswo. Erfrischt und mit einem Lächeln.

 

Ungefähr so wünsche ich mir das auch für die Zeit nach Corona, vielleicht im nächsten Frühjahr. Dass wir alle nicht genau da wieder auftauchen, wo wir vorher waren. Sondern abtauchen, nachdenken und das Leben noch mal neu angehen. Mutig, entschlossen und ohne Angst. Denn Gott ist bei uns, wohin wir auch gehen.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

15.09.2021
Pfarrer Titus Reinmuth