Heidi und die güldne Sonne

Morgenandacht

Gemeinfrei via unsplash/ Felipe Giacometti

Heidi und die güldne Sonne
18.07.2022 - 06:35
11.06.2022
Heidrun Dörken
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Von Heidi aus den Schweizer Bergen habe ich mein Lieblingslied gelernt. Mit 12 Jahren hatte ich den Kinderbuch-Klassiker Heidi von Johanna Spyri gelesen. Die Geschichte des Waisenkinds, das zu ihrem Großvater, dem Alm-Öhi, in die Berge kam und dort auf der Alm glücklich war mit den Ziegen und den Tannen. Doch dann musste sie fort in die Stadt, zur reichen Familie Sesemann. Ausgerechnet in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main war Heidi unglücklich und heimwehkrank. Ich selbst bin in Frankfurt gern aufgewachsen. Im Gegensatz zu Heidi war ich aber bei meiner Familie, nicht bei fremden Leuten. Und natürlich sind die Taunusberge nicht die Schweizer Alpen. Ich litt beim Lesen mit Heidi und freute mich mit ihr, als sie endlich wieder zurückdurfte: zu ihren Bergen, zum Alm-Öhi, dem Geißenpeter und seiner Großmutter. Die war blind.

Heidi liebte diese Großmutter. Es war meine Lieblingsstelle im Buch. Die Großmutter sitzt in der dunklen Hütte am Spinnrad. Auch nach der langen Trennung erkennt sie Heidi an ihren Schritten. Heidi schüttet ihr die Brötchen in den Schoß, weich und weiß, eine Kostbarkeit. Sie sollen die Großmutter wieder kräftig machen.

Später habe ich begriffen, welch wachen Blick Johanna Spyri für die Not der Menschen in den Alpen hatte. Im neunzehnten Jahrhundert, zur Zeit der Industrialisierung, lebten dort viele Familien im Elend. Kaum ein Bauernhof war einträglich. Vom Ziegenhüten konnte man kaum leben. Viele Kinder konnten noch nicht einmal zur Dorfschule gehen. Sie wurden grausam früh zur Kinderarbeit genötigt (1). Sie waren oft jünger als zwölf Jahre, als sie in Fabriken oder Dienststellen mussten, weit weg von zuhause. Johanna Spyri prangerte Zustände an, die es in anderen Teilen der Welt heute noch gibt. Aus der Sicht der Kinder erzählte sie von der Ungerechtigkeit. Sie wollte mit der Geschichte von Heidi Mut machen, denn sie geht gut aus. Nicht allein durch das Brot, das sie heimbringt. Die blinde Großmutter wünschte sich schon lange vergeblich, dass ihr jemand etwas vorliest. Heidi sieht das alte Gesangbuch. Heidi ruft: „Großmutter, jetzt kann ich lesen!“. Sie hatte das in der Stadt gelernt. Heidi blättert. Es wird ihr immer wärmer, heißt es, und sie liest mit Freude diese Strophe: „Die güldne Sonne, voll Freud und Wonne, bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht. Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder; aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.“ (2) Noch nie hatte Heidi die Großmutter so glücklich gesehen. Es war für Heidi selbst, so heißt es wörtlich, „das allergrößte Glück, es ihr mit diesen Worten so hell zu machen“.

Auch ich habe mich als Kind beim Lesen gewärmt an den Worten von der Sonne. Später merkte ich, das sind Worte vom Pfarrer und Dichter Paul Gerhardt. Sie stehen im Evangelischen Gesangbuch. Geschrieben hatte er sie nach den Schrecken und Grausamkeiten des Dreißigjährigen Kriegs. Paul Gerhardt wusste, was es heißt, am Boden zu liegen, viele aus seiner Familie hat er durch Krankheit und Krieg verloren. Gottes Barmherzigkeit hat er wie die Sonne erlebt, die nach langer Nacht aufgeht.

Johanna Spyri machte sich Paul Gerhardts Worte zu Eigen. Natürlich wusste sie: Man kann nicht einfach in die Natur fliehen, und alles Schwere löst sich von selbst. Aber sie glaubte: Wer auf den Schöpfer des Lichts vertraut, wird nicht im Dunkeln verzweifeln. So lässt sie Heidi mit offenen Augen durch die Welt gehen, mit einem Blick für die Not der anderen.

Die Worte von der güldenen Sonne sind alt. Und doch verstehen heute Kinder wie Ältere auf Anhieb das Bild von Gott als dem hellen Licht. Ob die Zeiten schlecht oder gut sind: Damals wie heute sehnen sich Menschen danach, dass sie mit Vertrauen den Tag anfangen. Wie Paul Gerhardt es im Lied von der güldenen Sonne ausdrückt: „Wenn wir uns legen, so ist Gott zugegen; wenn wir aufstehen, so lässt er aufgehen über uns seiner Barmherzigkeit Schein.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literaturangaben:

  1. Vgl. z.B. die „Schwabenkinder“ https://de.wikipedia.org/wiki/Schwabenkinder
  2. Evangelisches Gesangbuch Lied Nr. 449 T: Paul Gerhardt, M: Johann Georg Ebeling 1666

 

 

 

11.06.2022
Heidrun Dörken