Muss ja

Morgenandacht
Muss ja
30.03.2020 - 06:35
30.01.2020
Stephan Krebs
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

Ein paar Wochen ist das her, da trifft Volker einen alten Schulfreund. Sie haben sich lange nicht gesehen. Bestimmt 20 Jahre. Sie mussten noch keinen Abstand halten: „Schön dich zu sehen. Wie geht es dir?“ – „Muss ja.“ Volker nickt seinem Gegenüber vielsagend-verständnisvoll zu. Das macht man so, wenn jemand „Muss ja“ sagt. Man fragt nicht weiter. Die beiden wechseln noch ein paar kurze Sätze. Dann verabschieden sie sich.

 

Volker bleibt hängen an diesem „Muss ja“ Diese beiden Worte beginnen in Volker zu arbeiten. Er fragt sich: „Ist das nicht auch mein Lebensgefühl?“ Durchhalten, standhalten. Tag für Tag. Aber ohne Freude. Immer mit der vagen Hoffnung, dass es bald besser wird. Aber ist das wirklich noch eine echte Hoffnung? Oder nur noch eine Durchhalteparole auf das Ende eines Tunnels, das nie kommt?

 

Volker macht das unruhig. „Muss ja“ – auf Dauer ist das zu wenig. Aber was fehlt eigentlich? Eine Wohnung ist da, wenn auch teuer. Die Familie ist da, wenn auch nicht innig. Arbeit ist da, wenn auch immer mühsamer. Die Urlaube sind schön, wenn auch irgendwie ein bisschen blass. Was also fehlt?

In den Wochen danach macht sich Volker auf die Suche. Er spricht mit seiner Familie, mit Freunden. Er beobachtet sich und seine Tage.

 

An einem Sonntagmorgen geht er sogar in die Kirche. Vielleicht findet er ja dort etwas, das über dieses „Muss ja“ hinaus reicht. Zunächst passiert nicht viel. Doch dann beten alle das Vater Unser. Mitten drin hört Volker sich und die anderen zu Gott sagen: „Dein Wille geschehe.“ Das schießt Volker heiß durch den Kopf. „Jetzt komme ich hierher um etwas Lebensfreude zu finden. Stattdessen höre ich „Dein Wille geschehe“!“ Volker ärgert sich: Mehr als „Muss Ja“ ist in der Kirche wohl auch nicht zu finden. Doch dann kommt Volker ein ganz anderer Gedanke: „Wer sagt denn, dass Gott mir etwas aufbürden will? „Dein Wille geschehe“ - das bete ich doch zu einem Gott, der liebt. Warum sollte Gott für mich etwas Schlechtes wollen? Im Gegenteil: Gottes Wille ist sicher, dass es mir gutgeht! Dass ich mich etwas traue. Freiheit!“

 

Inzwischen geht der Gottesdienst zu Ende. Die Orgel fängt an zu spielen. Mit wuchtigen Tönen, die so ganz anders klingen als die Musik des Alltags. Den Sound der Orgel spürt Volker im ganzen Körper. Festliche Klänge, die das Leben in einen anderen Horizont stellen. Sie erreichen Volkers Seele. Ja, sie überspülen geradezu seine Seele. Volker spürt, wie seine Augen feucht werden. Tränen rollen herunter. Um ihn herum gehen die Leute zum Ausgang. Doch Volker bleibt sitzen. So gut es geht versucht er seine Tränen zu verbergen.

Irgendwann ist die Kirche leer. Die Küsterin kommt und will Volker hinausbitten. Zum Glück bemerkt sie rechtzeitig: Im letzten Gast geht gerade etwas Wesentliches vor. Dezent zieht sie sich zurück. Sie kennt das. Das passiert hier immer mal wieder.

Davon merkt Volker nichts. Zu sehr ist er mit seinen Tränen beschäftigt. Denn das kennt er nicht. Weinen fand er immer peinlich. Doch nun merkt er: Die Tränen bringen etwas Warmes mit: Gefühle. Im Moment bringen sie Trauer und Schmerz. Aber selbst das ist besser als dumpfes Durchhalten, als das ewige „Muss ja“. Irgendwann kann Volker aufstehen und sich aus der Kirche schleichen. Er trägt einen Schatz hinaus, der ihm irgendwann abhandengekommen war: Ein intensives Gefühl von Leben, von Ich, von Wert, von Lebensfreude. Er ist fest entschlossen, diesen Schatz gut zu hüten.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

30.01.2020
Stephan Krebs