Als Oma starb

Wort zum Tage
Als Oma starb
20.08.2016 - 06:23
22.08.2016
Pfarrer Michael Becker

Als Oma starb, war ein strahlend schöner Sommertag. Das Kind war acht Jahre alt und wohnte weit weg bei der Tante. Dort ging es zur Schule. Vor ein paar Tagen hatte man dem Kind gesagt, die Oma sei krank. Sie hatte Gicht, konnte ihre Finger kaum bewegen und nur schlecht gehen. Weil Oma aber immer schon krank war, machte sich niemand große Sorgen. Und Tod gab es noch nicht für das Kind. Am Sommertag dann, nach der Schule, stand auf einmal das Auto der Mutter vor dem Haus der Tante. Oma war gestorben. Alle schauten sich nur an und waren still. Es folgte die lange Fahrt in die Heimat.

 

Aber die Heimat war weg, als Oma starb. Das Kind begriff nichts, sah nur die anderen weinen, weinte vielleicht auch, es ist alles so lange her. Nur eins ist wie heute: Die Heimat war weg. Als Oma starb und ins Grab gelegt wurde, war die Kindheit zu Ende. Das ahnte man damals nicht, aber später dann. Und weiß es heute. Beim ersten Todesfall fängt ein Kind an, erwachsen zu werden. Weil es spürt: es gibt Verluste, die unersetzbar sind. Als Oma starb, war das so. Es gibt Liebe, die unersetzbar bleibt. So sehr sich andere auch bemühen, Mutter und Tante, Oma blieb unersetzbar. Das Kind ist heute alt, sieht sie aber immer noch vor sich: ihre gekrümmten Gelenke, dunkle Kleider, das weiße Haar. Wenn ihr die Strümpfe rutschten, musste jemand helfen. Harte Krusten am Brot wurden ihr weggeschnitten oder im Kaffee eingetaucht, weil Zähne fehlten. All diese Bilder sind Bilder der Liebe. Man erinnert sich nicht wegen der Gelenke oder der Brotkrusten an die Oma, sondern wegen der Liebe. Am liebsten erinnert man Liebe. Weil es die Oma liebte wie nichts auf der Welt, fielen dem Kind die Gelenke auf, die verrutschten Strümpfe, die Brotkrusten im Kaffee; und dass sie beim Beten die Hände kaum falten konnte wegen der Gicht.

 

Als Oma starb, war die Heimat weg. Für immer. Ihre Liebe ersetzt man nicht. Die war nun im Himmel. Wo alle Liebe ist. Und neue Liebe herkommt. Die Oma war Liebe. Weil es sie gab, muss es Gott geben, weiß das Kind bis heute. Undenkbar, dass Menschen solche Liebe erfinden. Als Oma starb, blieb Gott für das Kind. Sein Leben lang.

22.08.2016
Pfarrer Michael Becker