Hoffnung oder die Dame in weiß

Wort zum Tage

Gemeinfrei via Unsplash/ Pedro Vit

Hoffnung oder die Dame in weiß
von Michael Becker
11.01.2023 - 06:20
23.12.2022
Michael Becker
Sendung zum Nachhören
Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage! 
Sendung zum Nachlesen

Sie lebt immer in Weiß. Über dreißig Jahre lang trägt sie schlichte, weiße Hauskleider. Weil sie scheu ist und etwas unnahbar. Aber sie dichtet, heimlich. Viele Gedichte findet man erst nach ihrem Tod in einem Pappkarton. Und ist fassungslos. So herrliche Gedichte, die damals niemand haben und lesen will. Heute zählt die Amerikanerin Emily Dickinson (1830 – 1886) zu den größten Dichterinnen Amerikas, obwohl ihre Gedichte schwierig sind. Die Gedanken kreisen um Gott und den Glauben. Sie erzählen von Liebe, die Emily sich ersehnte, aber nie besaß - außer zu Eltern und Geschwistern. Und von der Hoffnung, die ein Leben reich macht. Eine Zeile über die Hoffnung heißt:

                                        Hoffnung ist das Ding mit Federn.

Herrlich, dieses Bild: Ding mit Federn. Das klingt leicht und luftig. Es geht hier nicht um Pläne und Wünsche. Es geht um mehr. Hoffnung ist nicht, dass mir ein Wunsch erfüllt wird wie: Lieber Gott, mach bitte, dass ich die Prüfung bestehe; oder: Lieber Gott, lass mich einen Preis gewinnen. Das sind Wünsche. Hoffnung aber ist größer und weiter. Sie ist etwas, in das ich mich hineinlege wie in ein Nest; Hoffnung ist, was mich wärmt und schützt, mein ganzes Leben umschließt, sogar die ganze Welt.

          Die sollen nicht verloren oder umsonst sein: Weder mein Leben noch die Welt. Das soll jemand schützend in seinen Händen halten, auch wenn es für meine Augen anders aussieht. Ganz tief in mir soll das weiche und warme Gefühl sein, dass ich gut aufgehoben bin, auch wenn es in meinem Leben stürmt oder dunkel ist. Hoffnung ist das Ding mit Federn. Ich bin nicht verloren, wenn ich mal verliere. Ich bleibe in Gottes Händen, wenn ich sterbe. So groß ist Hoffnung. Sie reicht bis in den Himmel. Ich könnte gar nicht leben, wenn ich das nicht hoffte. Da muss mehr sein als düstere Tage. Es soll auch Weiches und Warmes geben, das Schmerzen lindert und Tränen trocknet. Und etwas, das mich leicht und luftig macht bei aller Erdenschwere. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal … du bist bei mir. Das ist Hoffnung. Dass jemand an meiner Seite bleibt – was immer auch geschieht.

Es gilt das gesprochene Wort.

23.12.2022
Michael Becker