Als Nonne im KZ

Als Nonne im KZ
von Pastoralreferentin Lissy Eichert
25.01.2020 - 23:35
08.01.2020
Lissy Eichert

Wort zum Sonntag, 25.01.2020, Lissy Eichert, Berlin

Guten Abend. - Diese Frau muss total verrückt gewesen sein. Und faszinierend: Lisa Pilenko, 1891 in Riga geboren, ein fröhliches Kind, neugierig, wild. Als sie 16 ist, stirbt ihr Vater. Sein Tod erschüttert ihren Gottesglauben. Die junge Frau begeistert sich für den Sozialismus, tritt in die Partei der Sozialrevolutionäre ein. Während der Oktoberrevolution arbeitet sie mit den Bolschewiki zusammen, gerät zwischen die Fronten, entgeht nur knapp der Todesstrafe. Mit ihrem zweiten Mann flieht sie aus Russland nach Frankreich. Dort, Im Exil, sterben zwei ihrer drei Kinder. Statt zu verzweifeln, findet sie wieder Zugang zum christlichen Glauben. Und – völlig abgedreht – aus Lisa Pilenko wird Mère Marie, eine orthodoxe Nonne. Sie weigert sich, geschützt in einem Kloster zu leben, sondern kümmert sich in Paris um ihre Landsleute; richtet ein Obdachlosenasyl ein; baut eine Armenküche auf; versteckt Frauen und Männer des Widerstands.

Auf ihre Initiative hin retten Pariser Müllmänner etwa zwei Dutzend verschleppte jüdische Kinder in Mülltonnen aus einem Gefangenenlager. Die Folge: Mère Marie wird ins Frauen-KZ deportiert, nach Ravensbrück, nicht weit von Berlin. Und hier – völlig paradox, geradezu irre – sieht sie sich am richtigen Ort. Russisch ist ihre Muttersprache; sie redet mit ihren russischen, meist kommunistischen Mitgefangenen. Und schafft es, in den Lagerbaracken Diskussionen zu organisieren, über Gott und die Welt. Es sind diese Gespräche, die den Frauen helfen, sich wieder als Menschen zu spüren, mit Würde. Mitten in Todesangst.

Im Konzentrationslager findet Mère Marie ihre Aufgabe. Sie kann Sinnvolles tun und lebt – den Tod vor Augen – erfüllt. Ich habe lange nachgedacht über diese Frau und ihre unbändige Lebenskraft. Was ist ihr Geheimnis?

Ich glaube, sie wehrte sich, dass die Nationalsozialisten ihr den Sinn des Lebens rauben. Darin scheint sich eine letzte menschliche Freiheit zu zeigen: die Freiheit, die es möglich macht, selbstbestimmt auf unzumutbare Verhältnisse zu reagieren. Mère Marie hatte entdeckt, wie sie auch im Exil, sogar im KZ andere stärken konnte.

Vor 75 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Daran werden wir in diesen Tagen besonders erinnert. Was ist eigentlich der Sinn der Erinnerung an die Befreiung vom abgrundtief Bösen? Ist es nicht unsinnig, wenn ich zwar zurückschaue, mich aber nicht für die Befreiung derer einsetze, die heute in Lagern zusammengepfercht werden?

Mich faszinieren, ja, provozieren Menschenrechtsaktivisten, die sich nicht einschüchtern lassen und der Versuchung widerstehen zu denken: „Da kann man ja eh nichts machen“. Die orthodoxe Nonne Mère Marie hat nicht resigniert. Sie hat ihre Freiheit genutzt - die Freiheit, selbst unter schwierigsten Bedingungen dem Leben zu dienen.

Ich wünsche Ihnen und mir, dass wir in jeder Situation das Wozu des Lebens erkennen, um das Wie zu ertragen.

08.01.2020
Lissy Eichert