Guten Abend.
Seit 30 Jahren lebe ich in Berlin-Neukölln. Meine Kirchengemeinde Sankt Christophorus ist von der Sonnenallee - einem der Silvesterkrawall-Hotspots - nur einen Steinwurf entfernt. Vor 30 Jahren hieß Neukölln die „Bronx von Berlin“. Und genau da wollten wir hin.
Damals gründeten wir das Projekt „Kirche im sozialen Brennpunkt“. Wollten der Armut und Perspektivlosigkeit etwas entgegensetzen. Mit Gottes Hilfe und durch kräftiges Zupacken.
Heute sind wir eine bunte Truppe aus vielen Nationalitäten. Und das Zusammenraufen ist auch gar nicht so schwer. Mit Offenheit, Respekt und klaren Regeln klappt das ganz gut.
Als ich am Neujahrsmorgen aus dem Fenster schaute, war unter Müllbergen die Straße kaum noch zu sehen. Als ich dann durch die Medien das ganze Ausmaß an Gewalt und Zerstörung kapiert habe – die Angriffe auf die Rettungskräfte - ich war ich fassungslos.
Und über die Äußerungen mancher Politiker zu den Krawallen konnte ich nur den Kopf schütteln. Als würden Schuldzuweisungen und Polemik die Ursachen aufdecken und irgendetwas besser machen.
Die Putzkolonnen der Stadtreinigung haben den Müll weggeräumt. Doch der Rauch dieser Neuköllner Nacht ist bis heute nicht verflogen.
Was brodelt da unter der Oberfläche?
In Neukölln oder anderswo, nach einer Party oder einem Fußballspiel: Meist sind es junge Männer zwischen 15 und 25, die ausrasten und um sich schlagen. Die Ursache solcher Aggressivität allein dem Migrationshintergrund zuzuschreiben, das ist polemisch. Auch deshalb, weil gerade Migranten oft besonders unter der Gewalt leiden.
In Neukölln leben und arbeiten rund 150.000 Menschen mit Migrationshintergrund. Einer von ihnen ist Achmet, Mitte 20, aus Syrien. Vor der Berufsschule wurde er von Polizisten befragt, wo er denn in der Silvesternacht war. Als stünde er als Migrant grundsätzlich unter dem Verdacht zu randalieren. Achmets Antwort: „Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um Menschen zu schaden. Hier ist doch jetzt meine Heimat.“
Unstrittig ist: Wer Gewalt ausübt, hat oft selbst Gewalt erfahren – in der Familie, auf dem Schulhof, auf der Straße. Wir brauchen Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter und Psychologinnen, die sich kümmern: den Jugendlichen zuhören, ihnen Halt geben, aber auch klare Grenzen aufzeigen. Weil unter der Oberfläche Verunsicherung, Wut und Ohnmacht brodeln, neben der Sehnsucht nach Zugehörigkeit, einem stabilen Zuhause, nach einer Aufgabe mit Sinn, die auch Spaß macht.
Auf Menschen zuzugehen, die Gewalt für ein legitimes Mittel halten, ist nicht ohne. Da zittern einem schon mal die Knie. Für mich als Seelsorgerin ist deshalb ein spiritueller Rückhalt wichtig. Genau deshalb verbinde ich mich jeden Tag mit einer Kraft, die größer ist als ich. Ich nenne sie Gott.
Dieser Rückhalt gibt mir Schwung und auch Ideen, mich - zusammen mit anderen - weiter gegen Gewalt und für eine gerechtere Welt einzusetzen.
Zum Beispiel öffnen wir vormittags immer die Türen unsrer Kirche und stellen eine große Tafel an den Eingang. Auf der steht: „Gottes Liebe hilft uns weiter“.
Als ich abends die Kirche schließen und die Tafel wegräumen will, muss ich schmunzeln. Jemand hat den Satz ergänzt: „Gottes Liebe hilft uns weiter. Heute“.
Ich wünsche Ihnen heute eine gute Nacht und morgen einen gesegneten Tag.
Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB)
Redaktion: Ulrike Bieritz
Katholischer Rundfunkbeauftragter für den RBB
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