Wut

Wut
mit Pfarrer Alexander Höner aus Berlin
13.01.2024 - 23:50
12.10.2023
Alexander Höner

Guten Abend, meine Damen und Herren!

Etwas auf seiner To-Do-Liste abzuhaken ist ein tolles Gefühl! Umso frustrierender ist es, wenn es nicht funktioniert. Ausgerechnet ganz oben auf meiner Liste für 2024 steht bei mir: Keine Wut mehr auf Berlin. Diese Stadt soll mich nicht mehr so negativ beschäftigen. Nicht mehr diese überfüllten Straßen und Nahverkehrsmittel, nicht mehr diese harten Gesichter, die einen nicht anlächeln, egal wie viel gute Laune man selbst mitbringt. Kein Frust mehr über Berlin.

Die ersten Tage hab‘ ich’s geschafft. Doch dann bin ich rückfällig geworden. Am Montag stehe ich auf dem Bahnsteig, warte auf meine S-Bahn und höre die Durchsage: „Liebe Fahrgäste, ab Mittwoch streiken die S-Bahn-Lokführer, bitte prüfen sie, wie sie ihr Ziel anders erreichen können.“ Und ich merke, meine Wut steigt wieder in mir hoch. Nein, ich will nicht meine Pläne zum tausendsten Mal umstellen müssen. Mein kleiner Engel auf der Schulter hält noch dagegen und flüstert mir ins Ohr: „Hey Alexander, reg‘ dich nicht auf! Es bringt nichts. Du kannst es nicht ändern. Denk‘ an deinen Vorsatz. Denk‘ daran, was dir Deine christliche Tradition sagt: Selig sind die Sanftmütigen!“ Doch das Teufelchen auf der anderen Schulter ist lauter: „Sanftmütig - bringt nichts! Seit Corona bist du sanftmütig. Und dann noch die Kriege, die hohen Preise, die Proteste. Alles hältst du aus, wirst immer erschöpfter und wütender. Jetzt ist Schluss! Lass es raus!“

Das Teufelchen hat Recht. Meine Wut muss raus. Ich kann sie nicht mehr runterschlucken oder versuchen abzuhaken. Da geht es mir wie vielen anderen, bei denen die Wut noch viel stärker ist, weil sie Angst um ihre Existenz haben. Ok, die Wut ist nicht wegzureden. Aber: Was mir ganz wichtig ist: Die Wut soll mich nicht blind machen. Nicht anderen schaden. Nie! Wie mach‘ ich das bloß?

Berlin ist laut und stinkt. Berlin ist anstrengend. Das werde ich nicht verändern. Ich werde die Leute in der S-Bahn nicht dazu bringen, mehr zu lächeln. Aber meine Wut darüber soll nicht mehr mein beherrschendes Lebensgefühl sein. Ich will das Gefühl loswerden, wütend, ja, ohnmächtig zu sein.

Sicher gibt es Dinge, die ich hinnehmen muss. Denn meine Vorstellung von gutem Leben teilen nicht alle. Auch nicht, wenn ich sie laut hinausbrülle. Wut erschöpft mich und ist zerstörerisch, wenn sie alles und jeden meint. Zum Beispiel: „Berlin ist so schrecklich!“ oder: „Die Regierung weiß nicht, was sie tut.“ Das bringt nichts. Das verbraucht nur Energie – bei mir und bei den Zuhörenden. Wenn ich allerdings meine Energie fokussiere, auf die Dinge, die ich verändern kann, fühle ich mich nicht mehr so ohnmächtig. Was kann ich selbst wirklich ändern, ohne andere platt zu machen, ohne immer nur dagegen zu sein?

Ich hätte nicht gedacht, dass das mit meiner Wut so schwierig wird. Wütend-Sein geht schnell, Sanftmütig-Sein ist aktuell die größere Herausforderung. Trotzdem versuch‘ ich‘s weiter. Berlin, ich liebe Dich nicht, aber wütend auf Dich sein, will ich auch nicht mehr. Kommen Sie gut durch die Nacht und geben Sie Ihrem Engel auf der Schulter immer wieder eine Chance!

12.10.2023
Alexander Höner