Feedback zur Sendung? Hier geht's zur Umfrage!
Sendung zum Nachlesen
„Geht Wachsen eigentlich auch rückwärts?“ Einige Kinderfragen sind echt philosophisch. Dass ich nicht mehr wachse und sie vermutlich mal größer sind als ich, finden meine Kinder extrem witzig.
Ich finde es in Ordnung, dass ich nicht mehr die zwei Meter Marke knacken werde. Auf Wachstum möchte ich aber trotzdem nicht verzichten. Aber ob es rückwärts geht? Grundsätzlich sprechen wir ja dann von Wachsen, wenn sich etwas ausdehnt, ausbreitet, zunimmt. Ob das gut oder schlecht ist, liegt an der Bewertung des Zustandes, der sich vergrößert. Bei inneren Entwicklungen oder wirtschaftlichem Aufschwung sprechen wir von Wachstum, aber auch bei Tumoren.
Trotzdem fühlt sich Wachstum für mich eher positiv an. Vermutlich habe ich immer noch das „Bist du aber groß geworden!“ meiner Verwandten in den Ohren, wenn sie mich früher eine Zeitlang nicht gesehen haben. Wachsen klingt nach Kraft, nach Potenz und Aufstieg.
Aber Wachstum im Sinne von Ausdehnung hört irgendwann auf. Rainer Maria Rilke dichtet: „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen…“ Aber selbst in diesem Gedicht gibt es eine Grenze des Wachstums. „Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen…“ Die wachsenden Ringe, die auf Postkarten gerne mit Baumringen illustriert werden, haben einen Anfang und ein Ende. Wenn der Baum stirbt, kommt kein neuer Ring mehr hinzu.
Irgendwann ist Schluss mit Wachsen. Aber geht rückwärts wachsen? Vermutlich veralbern mich die Kinder und wollen sagen, dass ich schrumpfe. Und da haben sie Recht: Ab dem 30. Lebensjahr schrumpfen wir alle zehn Jahre einen Zentimeter. Die Bandscheiben verlieren immer mehr an Flüssigkeit und sacken zusammen. Und ich erscheine meinen Kindern vermutlich auch nicht mehr so groß wie früher, weil sie wachsen. Neulich hat mir mein Sohn versprochen, dass er mich später auch mal die Treppe hochträgt, wenn er groß ist.
Kann ich Schrumpfen als Wachsen in die andere Richtung verstehen? Wenn ich an Substanz verliere, wird etwas Anderes mehr? In der Bibel sagt Johannes der Täufer über sich und Jesus: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Johannes 3,30) Es geht dabei nicht um eine Diät. Johannes der Täufer beschreibt den Part, den er im Neuen Testament spielt: Er ist der Wegbereiter für Jesus. Sobald Jesus öffentlich auftritt, nimmt Johannes sich zurück und lässt Jesus vorkommen, von dem Gottes Stimme sagt: „Dies ist mein geliebter Sohn.“ (Matthäus 3,17) So die Erzählung im Neuen Testament.
Johannes der Täufer steht für einen Menschen, der weiß, was sein Auftrag ist. Er kennt seine Grenzen und hat die Größe, anderen Raum zu geben. „Ich aber muss abnehmen“ ist dann wie eine Konzentration auf den Kern seines Wesens. Er verliert äußerlich an Einfluss, gewinnt aber innerlich. Das könnte ein positives Rückwärts-Wachsen sein.
Und solche Menschen gibt es. Ich denke dabei an eine alte Dame. Physisch wird sie tatsächlich „immer weniger“, wie man sagt. Dünner, aber auch etwas klapprig. Ihre Ausstrahlung aber wird intensiver. Ich habe sie in einer Meditationsgruppe meiner Kirchengemeinde kennengelernt. Ihr Schweigen hat eine große Kraft und Ruhe. Darum setze ich mich auch immer gerne in ihre Nähe.
Wenn ich still sein möchte, werde ich oft erst einmal unruhig. Es wird fahrig und flatterig in mir. Ihre Konzentration hilft mir. Ich bin sicher, dass bei ihr etwas rückwärts gewachsen ist. Und dass dieser Prozess nicht aufhört.
Mich versöhnt das etwas mit dem „Weniger werden“ im Alter. Es kann heißen: Einiges wird weniger. Anderes gewinnt und nimmt zu. Und Wesentliches kann dabei tatsächlich sogar mehr zutage treten.
Es gilt das gesprochene Wort.