Die Sendung zum Nachlesen:
Am liebsten wäre ich im Boden versunken. Das durfte doch nicht wahr sein! Mir war ja klar: Ich war ein fauler Hund. Oft hatte ich einfach nicht genug gelernt. Aber diesmal nicht. Dies-mal hatte ich gepaukt. Und wie. Immer und immer wieder hatte ich geübt mit den Formeln. Und war mir sicher, jedes Mal den Rechenweg verstanden zu haben. Und trotzdem: Am Ende hatte es nur für eine Fünf gereicht. "Mangelhaft" stand da in roten Buchstaben unter der Klas-senarbeit. Ich weiß heute noch, wie der Lehrer das Heft auf meinen Tisch hat fallen lassen. Habe heute noch das klatschende Geräusch im Ohr, mit dem das Heft auf der Tischplatte lan-dete. Kann mich heute noch an den schalen Geschmack erinnern, als ich realisiert habe: Wie-der war die Leistung nicht ausreichend. Mangelhaft! Und weil die ersten beiden Klausuren auch nicht besser waren, stand die Zeugnisnote damit fest. Vor der entscheidenden Klausur hatte ich noch alles in der Hand. "Wenn Du eine Drei oder besser schreibst, kann ich Dir die Fünf im Zeugnis ersparen", hatte der Lehrer gesagt. Da hatte es noch Hoffnung gegeben. Aber nun war es zu spät. Es war demütigend.
Das fällt mir heute noch immer zuerst ein, wenn ich an meine Schulzeit denke. Die erste und einzige Fünf, die ich jemals in einem Zeugnis hatte. Es war eine große Niederlage. Das erste Mal, das ich erfahren habe, wie es ist, zu scheitern. Natürlich sind noch viele weitere Erfah-rungen gefolgt. Egal, ob privat oder beruflich: Immer hat es neben Erfolgen auch das Gegen-teil gegeben. Immer auch das Scheitern.
Und - um das gleich dazuzusagen: Nicht jedes Scheitern hatte irgendeinen pädagogischen Nutzen, in dem Sinne, dass es mir geholfen hätte, es beim nächsten Mal besser zu machen. Mehr zu lernen, ruhiger zu bleiben oder besser aufzupassen. Das hat es zwar auch gegeben, aber
manches Scheitern hatte keinen erkennbaren Nutzen. Es war einfach da. Tat weh, schmeckte bitter, war nicht schön.
Die Bibel ist voll von Geschichten des Scheiterns. Schon zu Beginn des Alten Testaments miss-glückt den Menschen in Babel beispielsweise ihr Turmbau. Die Lebensplanung des sogenannten verlorenen Sohnes geht nicht auf. Hiobs Leben wird mächtig durcheinander gewirbelt als er, der gottesfürchtige Mann, alles verliert, was ihm lieb und teuer war.
Schon immer sind Menschen gescheitert. Schon immer haben ihre Pläne auch mal nicht funk-tioniert. Sind nicht aufgegangen. Das Scheitern ist eine urmenschliche Erfahrung. Und wo-möglich sogar eine urgöttliche: Was wäre denn, wenn Gott bei der Erschaffung der Welt auch gescheitert wäre. Wenn er sich das alles ganz anders vorgestellt hatte mit Adam und Eva und der Schlange und dem Apfel? Was wäre, wenn er nach dem Rausschmiss von Adam und Eva aus dem Paradies auch dagesessen und sich gedacht hätte: Irgendwie war das alles ganz anders geplant. Ich meine: Könnte doch sein! Sollte das Scheitern vielleicht gar keine rein menschli-che Angelegenheit sein? Nicht reserviert für die Geschöpfe, sondern auch eine Erfahrung des Schöpfers?
Wie dem auch sei: Fest steht jedenfalls, dass Menschen schon immer mit ihrem Scheitern um-gehen mussten. "Der Herr hat´s gegeben, der Herr hat´s genommen, gelobt sei der Herr", sagt Hiob. Für mich ist das kein passives Ergeben in Gottes Willen. Es ist das aktive Akzeptie-ren des Scheiterns als Teil des eigenen Lebens. Scheitern ist nichts, was von außen zum Leben dazukommt oder eben auch nicht. Es ist Teil des Lebens. Sozusagen organisch mit ihm ver-bunden. Nicht schön, nicht unbedingt lehrreich, sondern einfach nur da.
Mir hat Hiobs Satz viele Jahre nach meiner Fünf in Mathe geholfen, mit dem Kapitel abzu-schließen. Sicher: Die Fünf hat zwar kurzzeitig dazu beigetragen, meine Leistungen in Mathe zu verbessern. Ich habe Nachhilfe bekommen, noch mehr und vor allem regelmäßig gelernt. Aber einen Haken daran machen konnte ich erst, als ich gelernt hatte dieses Scheitern zu ak-zeptieren. Als das, was es ist: Ein konstitutiver Bestandteil meines Lebens.
Es gilt das gesprochene Wort.