Diese Woche im Religionsunterricht, ich sitze mit den Kindern im Kreis und erzähle: Ein Soldat reitet auf seinem Pferd. Er kommt vorbei an einem Bündel aus Lumpen. Die Lumpen bewegen sich, ein Mann schält sich heraus. ‚Ich bin so hungrig‘ – der Soldat gibt ihm zu essen. ‚Ich friere so‘ – der Soldat teilt seinen Mantel. Den halben gibt er dem Frierenden. Die Kinder sagen zu mir: ‚Frau Sobottke, das kennen wir doch schon, das ist Sankt Martin!‘ Kennen wir schon. Und diese Geschichte auch: An der Grenze Menschen im Wald. Männer, Frauen und Kinder. Sitzen in der Falle. Trinken Regenwasser, haben nichts zu essen. Die Kinder sind krank, Menschen erfrieren. Journalisten und Hilfsorganisationen – nicht erlaubt. Soldaten auf der einen und auf der anderen Seite. Die einen Soldaten laden die Menschen im Wald ab, die anderen haben einen Zaun gebaut. Wenn Menschen es über die Grenze schaffen, werden sie zurückgeprügelt. Wie können die Soldaten das? Prügeln statt teilen?
Bilder, die wir schon kennen, Not, die wir schon oft gesehen haben.
Ich rede mit den Kindern in der Schule darüber, wie helfen geht. Manche von ihnen leben selbst in schwierigen Situationen. ‚Frau Sobottke, meine Mama sagt, man kann nicht jedem helfen.‘ ‚Das stimmt,‘ sag ich. ‚Du alleine kannst nicht alle retten. Aber wir alle zusammen, wir können vielen helfen.‘
Nein, man darf Diktatoren nicht stärken und sich nicht von ihnen vorführen lassen. Aber der Diktator führt das reiche Europa längst vor mit seinen Idealen und Werten. Auch das kennen wir.
Den einen zerreißt es das Herz, andere haben sich daran gewöhnt. Viele können nicht mehr hinsehen, gerade die Engagiertesten sind verzweifelt, ratlos. ‚Man kann nicht jedem helfen‘.
Die Kinder singen: ‚Sankt Martin‘ Für viele ist das nur eine freundliche Geschichte mit Laternen und Martinsmännlein. Es ist aber die Mitte des christlichen Glaubens. Martin hilft und in der Nacht erscheint ihm Jesus im Traum und sagt: ‚Was du dem armen Mann getan hast, das hast du mir getan.‘ Martin hört Jesus – aber zuerst hat er auf sein Herz gehört.
Wir hören Martins Geschichte. Wenn wir sie nachspielen, will jeder Sankt Martin sein, selbst der wildeste Junge. Die Kinder hören auf ihr Herz. ‚Ich will auch mal Sankt Martin sein, dann redet Jesus mit mir.‘ ‚Vielleicht reicht es jemandem zu helfen, dann hast du Jesus schon gehört.‘
Können wir auf unser Herz hören? Vielleicht wie Martin: herabsteigen vom Pferd, den Mantel teilen, das Essen. Großzügig, mutig und gut sein. Das ändert mehr als nur ein Leben.
Zusammenhalten, zusammen die Ratlosigkeit aushalten und da helfen, wo es gerade am nötigsten ist. Vielleicht kennen sie das schon – und wissen, wie glücklich es macht, wenn auch nur eine oder einer gerettet wird.
Südwestdeutscher Rundfunk (SWR)
Redaktion: Ute-Beatrix Giebel