Eine Woche Chicago mit jungen Leuten – verrückte Idee oder? Viel zu gefährlich, viel zu viel CO2, haben mir viele gesagt. Aber ich war vor drei Jahren als Pfarrerin dort und habe da Christinnen und Christen kennengelernt, die so voll Mut und Klarheit und Intensität ihren Glauben leben, wie ich es hier noch nie erlebt habe. Diese Erfahrung wollte ich unbedingt mit jungen Leuten aus meiner Kirche teilen. Deswegen bin ich letzte Woche mit einer Gruppe aus der Evangelischen Studierendengemeinde Mannheim nach Chicago geflogen. Wir waren zu Gast bei unfassbar großzügigen Gastfamilien.
Natürlich haben wir uns auch diese eindrucksvolle Stadt angesehen. Der Blick wird wie magisch nach oben gezogen von den glänzenden Fassaden der Wolkenkratzer. Der Himmel spiegelt sich darin. Zwischen all den Touristen und vielbeschäftigten Leuten, mitten im Trubel, unbemerkt von den meisten, auf einmal eine Frau – ich sehe sie erst nur aus dem Augenwinkel – eine Schwarze. Sie wirkt alt, sie humpelt, an der Hand ein kleines Mädchen, in der anderen Hand Taschen und Tüten hinter ihr ein Junge, vielleicht sechs oder sieben, er schiebt einen Einkaufswagen, darin noch mehr Taschen und ein Baby. Eine ganze Familie, obdachlos! Wer weiß, wo sie schlafen? Es ist noch eiskalt in den Nächten. Eine aus unserer Gruppe, spricht es aus: „Die Stadt ist so beeindruckend und dann das! Es zerreißt mir das Herz.“
Mit den Gastfamilien reden wir über das, was wir erleben. Sie kennen das, sie leben in dieser Stadt. Sie sind schwarz, Afroamerikaner. Lehrerinnen, Professoren in einer guten Wohngegend. Und doch auch sie erleben Rassismus, Gewalt und Diskriminierung. Die Bedrohung ist real. Fast täglich werden in Chicago Schwarze ermordet. Die Kirchengemeinde lebt mitten im Ghetto von Bandenkriegen und Polizeigewalt. Arbeitslosigkeit, Drogen und bittere Armut bestimmen das Leben.
In unserer Mannheimer Gruppe macht sich das Gefühl der Überforderung breit.
Hilflosigkeit, auch Schuldgefühle. Zugleich begegnen wir lauter mutigen engagierten herzlichen Leuten. Sie kümmern sich um Obdachlose, um Leute, die aus dem Gefängnis kommen. Als Christen stehen sie auf gegen Rassendiskriminierung, kümmern sich um Einzelne und machen Politik. Und sie kümmern sich um uns, als gehörten wir zur Familie.
Armut und Rassismus und Ungerechtigkeit gibt es überall. Hier genau wie dort
geht es darum, die Augen zu öffnen und das Herz. Hinzusehen. Zuzuhören.
„Aber was kann ich als Einzelner schon tun?“ fragt Benny. „Was willst du tun?“ erwidert eine der Pfarrerinnen aus Chicago: „Und was wirst du tun, wenn du nachhause kommst?“
Marvin, der Jüngste aus der Mannheimer Gruppe erzählt von seiner Gastmutter; die hat ihn zum Abschied in den Arm genommen, ihn angesehen und gesagt: “Don’t forget, you can change the world – and you must!” „Vergiss nicht: du kannst die Welt verändern – und du musst.“
Für solch einen Satz muss man auch mal um die halbe Welt fliegen. Er wird vielleicht mehr als ein Leben verändern.
SWR