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Die Sendung zum Nachlesen:
„Leider kann ich das vierte Gebot nicht befolgen (1).“ Die Schriftstellerin Helga Schubert war schon über siebzig, als sie im Urlaub auf einer Nordseeinsel zum ersten Mal einer Seelsorgerin ihr Herz ausschüttete. „Bei den übrigen neun Geboten schaffe ich es auch nicht immer, aber beim vierten Gebot ist es am schwersten“. Helga Schubert erzählt davon im Buch „Vom Aufstehen“, mit dem sie mit achtzig Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann (2). Ihr ganzes erwachsenes Leben hatte Helga Schubert mit dem vierten Gebot gerungen:
„Ich kann das vierte Gebot nicht befolgen. Ich kann meine Mutter nicht lieben, so wie sie mich nicht lieben kann. Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben, auf dass es dir wohl gehe…“.
Doch da schreitet die junge Pastorin ein: „Irrtum. Von Liebe ist in dem Gebot nicht die Rede. Sie brauchen sie nur zu ehren.“
Das stimmt: Das vierte Gebot lautet in der Bibel: Du sollst Vater und Mutter ehren. (3)
Ehren! Von „lieben“ ist da nicht die Rede. Das Gebot richtet sich an erwachsene Nachkommen. Es soll nicht kleinen Kindern Gehorsam beibringen. Auch wenn es viel zu oft so benutzt wurde. Und es geht hier nicht um Liebe.
Vielmehr werden die erwachsenen Kinder zur Fürsorge verpflichtet. Sie sollen ihren Eltern zur Seite stehen, wenn diese nicht mehr können. Das Gebot ist eine Art Generationenvertrag. Und damit auch eine soziale Errungenschaft. Besonders in Gesellschaften und Verhältnissen, in denen es keine Rente oder andere Absicherungen im Alter gab und gibt.
Die hochbetagte Mutter von Helga Schubert damals hatte genug Rente. Die fast Hundertjährige war in einem kirchlichen Heim gut versorgt. Darum hatte sich ihr einziges Kind Helga gekümmert. Das seelische Verhältnis zwischen Tochter und Mutter blieb dagegen schwierig. Die Tochter fühlte sich seit ihrer Kindheit immer wieder fremd mit der Mutter und oft von ihr verletzt.
Die Pastorin hörte sich alles an und sagte: „Sie haben doch Ihren Auftrag erfüllt… Sie haben sich ganz umsonst bekümmert. Liebe ist etwas Freiwilliges, ein Geschenk.“
Helga Schubert sagt: „Mir schien, als ob ich von etwas Schwerem endlich erlöst war.“ (4)
Ich verstehe das so: Sie war erlöst davon, etwas von sich zu fordern, was niemand fordern kann. Zuneigung, Sympathie, Freundschaft oder Liebe kann man nicht gebieten. Sie sind Geschenke. Auch wenn viele Kinder sich genau diese Geschenke sehnlichst von den Eltern wünschen. Und viele Eltern sie sich von den Kindern wünschen. Man kann sie nicht einfordern. Deshalb heißt das Gebot: Du sollst Vater und Mutter ehren.
Das Gebot fordert Lebensschutz, wie weitere Gebote auch. Sie soll man erfüllen. Alle haben darauf Anspruch. Egal wie zweideutig die Gefühle sind zu Familienmitgliedern. Menschen sollen Fürsorge erfahren, wenn sie für sich selbst nicht mehr sorgen können. Das vierte Gebot will, dass das Leben und Auskommen von Menschen geachtet wird.
Helga Schubert war als Tochter erlöst, als sie unterscheidet: Ich soll ehren. Ich muss nicht lieben.
Vielen erwachsenen Kinder geht es zum Glück anders: Sie kümmern sich um die Eltern, wenn es nötig ist, und gleichzeitig können sie leicht und frei sagen: Ich liebe meine Mutter, meinen Vater. Und fühle mich auch von ihnen geliebt. Das ist ein großes Geschenk.
Die, die es - aus welchen Gründen auch immer - anders erleben, will das vierte Gebot nicht bedrücken, sondern befreien.
Helga Schubert findet keine Liebe zu ihrer Mutter. Aber am Schluss erzählt sie von etwas, was mit Liebe verwandt ist. Was man genauso wenig gebieten kann: Dankbarkeit. Sie ist am Ende dankbar für das, was gut war trotz der schwierigen Beziehung. Kurz vor dem Tod der Mutter konnte Helga Schubert ihr sagen: „Ich verdanke dir, dass ich lebe, es ist alles gut.“ (5)
Es gilt das gesprochene Wort.
Literatur dieser Sendung:
- Helga Schubert, Vom Aufstehen, dtv München, 7. Aufl. 2021, Seite 189 ff.
- Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 https://www.deutschlandfunkkultur.de/bachmann-preise-2020-vergeben-helga-schubert-hat-diesen-100.html
- 2. Mose 20, 12; 5. Mose 5, 16
- Zitate ebenda S. 192 f.
- Ebenda S. 217