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Die Sendung zum Nachlesen:
Die folgende Szene ist Stoff für Legenden. Doch ihr Kern ist schlicht ein Beispiel für Hilfe von Mensch zu Mensch.
Sie spielt in einer dunklen Oktobernacht vor gut fünfhundert Jahren in der freien Reichsstadt Augsburg. (1) Zwei Männer bewegen sich im Schutz der Dunkelheit durch eine enge Gasse in Richtung eines der kleineren Tore der bewachten Stadtmauer. Einer der beiden heißt Christoph Langenmantel. Er verhandelt mit den Wachen. Als Jurist und Sohn des Bürgermeisters kennt er sie und hat Autorität. Die Tore öffnen sich, draußen steht ein Pferd. Der zweite Mann murmelt Dank und Gott befohlen und reitet schnell davon. Der Tor-Öffner geht in die Stadt zurück. Der Mann, dem er zur Flucht verhalf, war Martin Luther.
Später konnten sich die Gegner des Reformators dessen Flucht nur so erklären: Es war der Teufel selbst, der Luther mit den Worten: „Da hinab“ den Weg durchs Stadttor gewiesen hat.
Die anderen, Anhänger der Reformation, sahen in Langenmantel einen Engel, den wackeren Ritter und Beschützer, der mit Luther, so wörtlich, die „Stimme des Volkes und Stimme Gottes“ gerettet hatte (2).
So spannend die beiden Deutungen sind, ich finde die historischen Fakten noch interessanter. Martin Luther hatte ein Jahr vor dieser Flucht seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel veröffentlicht. Daraufhin eröffnete der Papst ein Ketzerverfahren gegen Luther. Dazu gehörte, dass der Angeklagte zum Widerruf aufgefordert wurde. Und zwar vom päpstlichen Gesandten Kardinal Cajetan, der dazu nach Augsburg geschickt wurde (3). Jedem war klar: Luther drohten Festnahme und letztlich der Tod, wenn er bei seiner Sicht des christlichen Glaubens blieb. Sie lautete: Der Ablasshandel ist falsch und der Papst steht nicht über den Aussagen der Heiligen Schrift. Das wollte Luther mit Cajetan diskutieren. Der aber wollte nur den Widerruf erzwingen. Christoph Langenmantel gehörte zu den Zeugen der Auseinandersetzung. Drei Tage heftigen Streits führten zu nichts. Luther ließ seine Auffassung öffentlich ans Domportal anbringen. Festnehmen konnte ihn niemand mehr. Über Nacht war er verschwunden.
Historisch ist sicher: Christoph Langenmantel hat Luther wirklich geholfen. Warum, das bleibt so dunkel wie die Nacht der Flucht. Man kann über seine Gründe für die riskante Hilfe nur mutmaßen. Vielleicht wollte er nicht, dass ein Mensch zu Tode kommt, nur, weil er anderer Meinung ist. Auch anderer Meinung als Langenmantel selbst. Denn man weiß auch: Er wurde nicht Luthers Anhänger. Er schloss sich nicht der Reformation an, sondern blieb katholisch.
Es stimmt eben nicht, was manchmal behauptet wird: Dass Menschen anderen nur helfen, wenn es für sie von Vorteil ist. Oder wenn sie dieselbe Meinung, denselben Glauben haben. Es stimmt nicht, dass Menschen nur helfen, wenn sie dabei einen Vorteil für sich sehen oder darauf spekulieren, später mal selbst Hilfe zu bekommen. All das war zwischen Langenmantel und Luther ausgeschlossen. Sie sind sich nie mehr begegnet.
Die Augsburger Szene ist für mich ein Beispiel für Hilfe von Mensch zu Mensch. Gegensätze und Meinungsverschiedenheiten sind da, sind aber angesichts der Not nicht entscheidend. Ich helfe, weil ich im anderen die Menschen-Schwester oder den Menschen–Bruder sehe.
Es gilt das gesprochene Wort.
Literatur dieser Sendung:
(1) 20./21.10.1518. Legenden und wissenschaftliche Fakten bietet zum ersten Mal zu diesem Thema ausführlich Helmut Gier, Luthers früher Unterstützer Dr. Christoph Langenmantel und der Bruder seiner Mutter Dr. Sebastian Ilsung. Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e.V., 53, 2019, S. 75-99; Zur Lokalgeschichte siehe Nicole Prestle, Als der Teufel Martin Luther zur Flucht aus Augsburg verhalf, Augsburger Allgemeine, 19.7.2017
(2) Gier, S. 77 f. Achim von Arnim bezeichnet Luther als „Stimme Gottes…“
(3) https://www.st-anna-augsburg.de/geschichte-st-anna/luther-und-augsburg