Die Halle der Kinder. Zum Yad Vashem-Gesetz vor 70 Jahren, 19. August 1953

Morgenandacht

Gemeinfrei via Unsplash/ Snowscat

Die Halle der Kinder. Zum Yad Vashem-Gesetz vor 70 Jahren, 19. August 1953
Morgenandacht von Pfarrerin Heidrun Dörken
19.08.2023 - 06:35
22.05.2023
Pfarrerin Heidrun Dörken
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Die Sendung zum Nachlesen: 

Wie kann man einem neunjährigen Kind vom Holocaust, von der Schoa, erzählen, vom größten Menschheitsverbrechen überhaupt? Wir waren mit unserm Sohn einen Tag unterwegs in Jerusalem. Mit Ron, einem israelischen Gästeführer. Wären wir nur zwei Erwachsene gewesen, hätten wir selbstverständlich die Gedenkstätte Yad Vashem besucht.

Heute vor siebzig Jahren (1) beschloss das israelische Parlament, diese Stätte zu errichten, „Zum Gedenken an Holocaust und Heldenmut“ heißt es wörtlich. Nun standen wir mit unserm Kind davor.

Yad Vashem bedeutet übersetzt „Denkmal und Name“. Angelehnt an Worte des biblischen Propheten Jesaja: „Gott spricht: Ich will ihnen in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben... Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll. (Jes 56,5).

Geflohene und Überlebende begannen Namen zu dokumentieren schon während des Mordens der nationalsozialistischen Gewaltherrscher. Nach der Befreiung bezeugten Überlebende persönlich, was sie erlitten hatten und was sie über Ermordete wussten. Davon erfährt man viel in der Gedenkstätte. Sie unterhält auch die größte Datenbank mit Namen. Jede und jeder kann im Internet darauf zugreifen (2). Darüber hinaus ehrt Yad Vashem Menschen aus allen Völkern, die Jüdinnen und Juden geholfen und sie versteckt hatten. Die einzelne gerettet haben unter Einsatz des eigenen Lebens. Zu ihrem Gedenken pflanzt man Bäume mit einem Namensschild daran. Oskar Schindler ist einer der bekanntesten. Später kam die Halle der Kinder dazu (3), zum Andenken an die anderthalb Millionen Kinder unter den sechs Millionen Ermordeten. Allesamt Opfer des Rassenwahns der Nazis.

Mit einem neunjährigen Kind darf man nicht hinein in Yad Vashem. Es ist zwar wichtig, Kindern altersgemäß davon zu erzählen und mit älteren Jugendlichen die Gedenkstätten in Deutschland, Europa und auch Yad Vashem zu besuchen. Aber Kinder sollen nicht von schrecklichen Bildern überwältigt werden, sondern behutsam und warmherzig begleitet hören, was sie in ihrem Alter aufnehmen können (4).

Ron, unser Gästeführer, hatte eine Idee: „In die Gedenkstätte gehen wir nicht. Ich weiß aber hinten auf der Rückseite eine Tür, da können wir kurz in die Halle der Kinder schauen.“ Und zu unserem Sohn gewandt: „Ich verbürge mich, das ist auch in Ordnung für dich.“ Ron verhandelte mit den Sicherheitsleuten und wir betraten die Halle der Kinder für einen Moment von hinten.

Wir konnten nicht viel sehen, denn der halb unterirdische runde Saal ist dunkel. Nur fünf Kerzen brennen. Ihr zartes Licht wird durch viele Spiegel reflektiert, so dass es aussieht wie ein ganzer Sternenhimmel. Und wir hören, leise, aber deutlich, eine Stimme Namen vorlesen: Alfred Bodenheimer, 9 Jahre, geboren in Frankfurt am Main (5) Und dann ein anderer Name und das Alter, in dem der Junge oder das Mädchen ums Leben gebracht wurde, und den Geburtsort. Wir erfahren: Dieses Endlosband braucht drei Monate, um alle Namen der Kinder wiederzugeben, von denen man weiß.

Wir bleiben einige Momente stehen mit unserem Kind, neun Jahre, geboren in Frankfurt am Main. Hören und schauen auf die Lichter der Kerzen.

Dann treten wir wieder ins Sonnenlicht, erst still, dann reden wir darüber, nur wenig. Später als junger Erwachsener erinnert sich unser Sohn an diese Momente mit dem Gefühl: Das war etwas Gewichtiges. Und sagt: Um es zu beschreiben, passt für mich ein altes Wort: Ehrfurcht.

Lichter und Kerzen machen Tränen, Verzweiflung und den Tod so vieler Kinder nicht ungeschehen. Und doch sind die Lichter unbedingt nötig: Für mich, für die Nachkommen, für die Gesellschaft. 

Ich brauche darüber hinaus die Hoffnung, die die Gründer von Yad Vashem hatten. Sie hatten den unfassbaren Schrecken mit Gottes Zusage verbunden: „Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.“

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Literatur dieser Sendung:

  1. https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-yad-vashem-gesetz-100.html; https://www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philhist/professuren/kunst-und-kulturgeschichte/europaische-ethnologie-volkskunde/exkursionen/israel/die-gedenkstatte-yad-vashem/
  2. https://www.yadvashem.org/de/archive/hall-of-names/database.html#:~:text=Die%20Zentrale%20Datenbank%20der%20Namen%20der%20Holocaustopfer%20ist%20ein%20einzigartiges,und%20dessen%20Lebensgeschichte%20zu%20rekonstruieren
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Denkmal_f%C3%BCr_die_Kinder_in_Yad_Vashem
  4. Mehr über altersgerechtes Hinführen hier: https://www.yadvashem.org/de/education/about-school/learning-materials-by-age.html
  5. https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=de&itemId=4220842&ind=2
22.05.2023
Pfarrerin Heidrun Dörken