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Der Hauptbahnhof in einer großen Stadt. Ein gut gekleideter Mann mit schwarzem Rollkoffer ist auf dem Weg zu seinem Gleis, als man eine junge Frau dabei erwischt, wie sie ihm den Geldbeutel aus der Sakkotasche zieht.
Alles spricht gegen sie: sie hat einen Geldbeutel in der Hand, der nicht der ihre ist; obendrein wurde die Szene beobachtet.
Der Bestohlene ist verständlicherweise wütend und schnappt sich seinen Geldbeutel zurück. Umstehende kommen näher und betonen aufgeregt, dass sie alles bezeugen können. Schaulustige mischen sich dazu, manche vielleicht auch mit der guten Absicht, zu schlichten. Die junge Frau steht einfach da in der Mitte der Leute und schweigt.
Die nächste Person, die die Szene betritt, ist eine Securityfrau um die sechzig. Die Uniform verleiht ihr etwas Offizielles und als sie sich mit tiefer Raucherstimme Gehör verschafft, sind alle schlagartig ruhig. „Was ist hier los? Gibts ein Problem?“, fragt sie die die junge Frau und den Mann.
Der erklärt gereizt und mit wenigen Worten die Situation. Die junge Frau schweigt.
Jemand ruft laut, dass man sofort die Polizei rufen sollte, es gebe schließlich Gesetze, die für alle gälten! Eine Stimme aus der zweiten Reihe ergänzt, bei Diebstahl sei bereits der Versuch strafbar - vermutlich eine übermotivierte Jurastudentin.
Die Securityfrau bleibt ruhig, sie wirkt fast desinteressiert. Dabei strahlt sie so eine Selbstsicherheit aus, dass alle auf eine Ansage von ihr warten. Ein Mann mit zwei Kindern im Schlepptau hält es schließlich nicht mehr aus. Vielleicht muss er eilig weiter und will unbedingt noch wissen, wie das hier ausgeht. „Ja, was denn nun?“, fragt er fordernd die Securityfrau.
Die sagt langsam und klar einen einzigen Satz: „Wer von euch noch nie ein Unrecht begangen hat, soll darüber urteilen, was nun geschehen soll.“
Dem Mann mit den Kindern wird’s jetzt zu seltsam. Er bricht auf, andere schließen sich an. Manchen kommt der Satz irgendwie bekannt vor und sie grübeln im Weitergehen, woher. Auch der Mann mit seinem Koffer muss allmählich seinen Zug erwischen; und was soll’s, seinen Geldbeutel hat er wieder, wichtig ist jetzt der Geschäftstermin in zwei Stunden.
Die Securityfrau sieht die junge Frau an: „Sie sind alle gegangen. – Schön, ich kann Ihnen nichts vorwerfen. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag und hoffe, dass wir uns nie wieder in einer solchen Situation begegnen.“
Frei nach einer Erzählung aus dem Johannes-Evangelium. Die lässt sich nicht ganz einfach ins Heute übertragen. Aber vielleicht gilt da ja wie im Strafgesetzbuch: Schon der Versuch reicht aus für eine neue Perspektive.
Es gilt das gesprochene Wort.