In Südkamerun halten sogenannte Katechisten die ländlichen Kirchengemeinden am Laufen. Katechisten sind Religionslehrer. Es gibt zu wenig Pfarrer für das weite Gebiet. Darum schaffen sie es nur an vier Wochenenden im Jahr in die Gemeinden. Dann können sie Taufen und Konfirmationen abhalten. Am Ort jedoch halten die Katechisten die Stellung und fungieren als unverzichtbare Helfer.
Medu bekleidet sein Amt als Katechist seit fast 50 Jahren. Und das mit gleichbleibender Leidenschaft und Dynamik. Mit mir führt er gerne ausführliche Gespräche während meiner Urlaube in Kamerun. Einmal überfiel er mich mit einem Problem. Es ging nicht von Anfang an um Freiheit. Aber im Lauf des Gesprächs stellte sich heraus, dass sie der Dreh- und Angelpunkt ist.
Die Angst in den Augen Medus und das Beben seiner Stimme zeigten: Es geht um etwas, das ihn aufwühlt. Er erzählt: Eine vernachlässigte Blessur am Fuß hat sich entzündet und sich zu einer klaffenden Wunde entwickelt. Seit einem Jahr heilte sie nicht. Im Krankenhaus sprach der behandelnde Arzt bereits von einer eventuellen Amputation. „Wie soll ich damit leben?“, klagt Medu verzweifelt.
Ich denke mit ihm über mögliche Auswege nach. Ein anderer Arzt könnte konsultiert werden. Vielleicht würde er die Lage anders einschätzen. Medu entspannt sich zusehends, während ich meinen Vorschlag ausbreite. Dann holt er tief Luft und sagt leise, er hätte an genau diesen Weg gedacht, allerdings ohne Arzt. „Ein traditioneller Heiler hat mir versichert, dass er meinen Fuß innerhalb von drei Wochen heilen würde.“
Ich sehe ihn begeistert an: „Das ist doch gut!“ Aber da sind wieder die Angst in Medus Augen und das Beben in seiner Stimme. „Aber ich als Christ kann doch nicht zu so einem Heiler gehen! Erst recht nicht als Katechist! Selbst wenn der Tote zum Leben auferwecken könnte, darf ich das nicht!“
Das also war das Problem. Medu war nicht frei, die Lösung in Anspruch zu nehmen, von deren Effektivität er überzeugt war. Ich sollte für ihn entscheiden und ihm Argumente für oder gegen den Besuch eines Heilers liefern. Ich jedoch fühlte bald meine eigene Unsicherheit. Schlug hier die Tabukeule der Kirche zu – was man als Christ angeblich darf und was nicht? War sie stärker als die Bedeutung der Gesundheit?
Ich versuchte, das Selbstverständnis der Kirche in Südkamerun zu verstehen. Man hatte es den Menschen verboten, traditionelle Medizin in Anspruch zu nehmen, da diese den Ahnen- und Geisterglauben mitbeinhaltet. Diese Meinung vertraten die pietistisch geprägten Missionare, die den christlichen Glauben nach Kamerun gebracht hatten.
Ob die Befürchtungen begründet und ob die damit verbundenen Verbote gerechtfertigt waren, ist für viele in den dortigen Kirchen bis heute eine offene Frage. Aber auf diesem Denken wurden viele afrikanische Kirchen gegründet. Medus Situation ist nur eine späte Folge jener Tabuisierung traditioneller Elemente der lokalen Kultur. Angesichts seiner Lage machte mich das sprachlos und zornig.
Ein vergleichbares Dilemma gab es bereits in den ersten christlichen Gemeinden, die der Apostel Paulus in Europa gegründet hat. Das Thema damals war nicht traditionelle Heilkunst, sondern das Essen von sogenanntem Götzenopferfleisch. Das war Fleisch, das den olympischen Göttern geopfert worden war. Es wurden immer nur ausgewählte Stücke des Tieres auf dem Altar verbrannt. Der Rest des Fleisches wurde an die Leute verteilt. Für die, die wenig Geld hatten, war es oft die einzige Möglichkeit, Fleisch auf den Tisch zu bekommen. Noch dazu hochwertiges Fleisch – für die Götter nur das Beste!
Dürfen Christinnen und Christen das? Essen ist doch Kult. Bekommen die fremden Götter nicht Macht über alle, die von dem Opferfleisch essen? Das hat einige in Paulus‘ Gemeinde innerlich zerrissen und in Angst versetzt. Der Apostel Paulus antwortet auf die Frage mit erstaunlicher Freiheit: „Alles ist mir erlaubt.“ Als Christ gibt es nur einen Gott für mich. Die anderen Gottheiten können mir also gar nichts anhaben. Sie existieren nicht.
Grenzenlose Freiheit. Aber – und der Apostel Paulus ist oft mit einem wichtigen Aber zur Stelle: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“ Und er fügt an: „Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ Konkret sagt Paulus seinen Leuten: Wenn ihr Angst vor dem Götzenopferfleisch habt, dann lasst es. Die Angst soll euch nicht beherrschen. Aber ihr könnt davon essen, wenn ihr euch frei genug fühlt. Denn: Alles ist euch erlaubt!
An diese Worte dachte ich in meinen Gesprächen mit Medu und sagte ihm diesen Satz: „Alles ist dir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“ Ich hätte ihm gerne zugerufen: „Nimm das in Anspruch, was dem Guten dient!“ Ich war überzeugt, dass ihm das erlaubt ist. Aber ich sagte es nicht. Ich wollte ihn nicht in seiner Entscheidung bedrängen. Es ging schließlich um seine Bedenken, seine Angst, seine Freiheit.
Am Ende meines Urlaubs erzählte mir Medu: Er hat die erste Behandlung beim Heiler hinter sich. Er hat seine Entscheidung selbst getroffen. Medu hat die Bedeutung jenes „Aber“ in der Aussage des Apostels Paulus bewogen und verstanden. Er konnte seine Entscheidung vertreten.
Ohne das „Aber“ ist Paulus‘ Aussage aus meiner Sicht viel weniger wertvoll. Im „Aber“ komme ich als Mensch zu Geltung. Es reicht nicht aus, dass ich frei bin, sondern ich trage Verantwortung für mein freiheitliches Handeln. Und das, unabhängig vom kulturellen Rahmen, in dem ich denke und fühle. Ich muss entscheiden, was gut ist und was nicht. Ich kann selbst herausfinden, was droht, Macht über mich zu erhalten. Ich fühle mich mit dieser Aussage als Mensch ungemein aufgewertet. Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.