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Sendung zum Nachlesen:
Wahrscheinlich lag es an den Hugenotten. Wegen der Hugenottengeschichte hat mich das Gedicht so beeindruckt. Als ich zur Schule ging, hatten wir eine Hugenottenfamilie in unserer Bekanntschaft. Ich meine die Protestanten in Frankreich, die dort früher als Minderheit blutig verfolgt wurden. Viele von ihnen flohen und fanden unter anderem in Preußen eine neue Heimat. Sie haben nicht unerheblich zum Wohlstand hierzulande beigetragen, die de Maizieres und Charbries, die Dumonts und Fontanes. Als Bauern, Goldschmiede, Handschuhmacher. Um 1700 kam jeder vierte Berliner aus Frankreich.
Das Gedicht, das mich so beeindruckt hat, hat Conrad Ferdinand Meyer geschrieben. Es spielt im 16. Jahrhundert, drei Jahre nach der Bartholomäusnacht, bei der etwa 3000 Protestanten umgebracht wurden. In dem Landhaus einer Hugenottenfamilie klopft es an der Tür. Draußen in Sturm und Regen steht ein Fremder in der Uniform des Königs. Er braucht Quartier für die Nacht und wird freundlich aufgenommen. Jetzt sitzt er am Kamin und wärmt sich auf. Da blitzen Erinnerungen auf: War er schon einmal hier? War es dieser Raum - vor drei Jahren? Es kommt ihm vor, als hörte er Kinder schreien. Im Feuer sieht er die Füße einer Frau. Auch unter der Folter gibt sie nicht preis, wo ihr protestantischer Mann zu finden ist. Der Fremde versucht die Erinnerung abschütteln, setzt sich zum Essen an den Tisch - und sieht in die entsetzten Augen der Kinder, die ihn erkennen. Er schüttet einen Becher Wein runter und geht auf sein Zimmer.
Am Morgen weckt ihn der Hausherr. Er steht neben seinem Bett. Die braunen Haare des Hausherrn sind über Nacht weiß geworden. Er weiß also Bescheid und hat ihn doch leben lassen, den Mörder seiner Frau. Nun begleitet er ihn noch ein Stück durch den Wald –Angst und Hass zusammen unterwegs. Am Ende lässt der Hugenotte den Fremden weiterziehen. Aus Furcht, weil der zu den königlichen Truppen gehört? „Du siehst, ich diene dem höchsten König?“ Ja, ich auch, sagt der Hausherr, „und in dieser Nacht ist mir der Dienst so schwergefallen wie nie“. Denn der, mein Gott will keine Gewalt. Die Rache ist seine Sache.
Das hat mich beeindruckt: dass einer, der allen Grund zur Rache hätte und zudem die Gelegenheit, ganz und gar auf Gewalt verzichtet. Dass er sich selbst diszipliniert. Ich denke jetzt manchmal daran - jetzt, wo die Gewalt in unserem Land zunimmt. Gegen Politikerinnen, Feuerwehrleute, Krankenwagenfahrer. Gegen Jüdinnen und Juden. Was diszipliniert uns heute? Was hält uns zusammen? Das Vertrauen in Institutionen sinkt, auch in die Kirchen. Kein Wunder, auch die Kirchen haben ja eine Gewaltgeschichte.
Hohes Vertrauen genießt nach wie vor das Bundesverfassungsgericht. Wenn Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, wenn die Freiheit bedroht ist, findet sich dort eine letzte Instanz. Eine Institution, die dafür sorgt, dass die Grundrechte aller Menschen geachtet werden. Die das Grundgesetz schützt und weiterentwickelt.
Es ist ein Alarmsignal, wenn in einem Land das oberste Gericht nicht mehr sakrosankt ist. Regierungen auf dem Weg zu einem autokratischen Staat greifen meistens zuerst die Unabhängigkeit der Gerichte an.
In Deutschland ist das Bundesverfassungsgericht der Hüter des Grundgesetzes. Aber wer schützt den Hüter? Gestern vor 75 Jahren wurde das Grundgesetz verabschiedet. In Verantwortung vor Gott und den Menschen, wie es in der Präambel heißt. Entstanden aus den furchtbaren Erfahrungen von Gewalt und Rache, von Pogromen, Unrecht und Unfreiheit.
In dem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer ist es nicht die Macht des Königs, die den Hugenotten davon abhält, Rache zu nehmen. Es ist sein Gottvertrauen. Er verlässt sich darauf, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt.
Auch wenn ich an eine solche Gerechtigkeit glaube, so bin ich doch dankbar, dass es das Bundesverfassungsgericht gibt. Eine weltliche letzte Instanz für alle. Es schützt die Grundrechte jedes Einzelnen. Damit nicht eine aggressive Mehrheit Minderheiten bedroht. Damit nicht Angst und Hass, nicht Gewalt und Rache regieren, sondern Recht und Gerechtigkeit.
Es gilt das gesprochene Wort.