Mitfühlen
Wie kann ich gleichzeitig empathisch sein mit den Menschen in Israel und in Gaza?
11.10.2024 06:35

Der Konflikt zwischen Palästina und Israel bleibt nicht im Nahen Osten. Er begegnet auf den Straßen und Plätzen in Deutschland – bis in Familie und Freundeskreis hinein. Mitfühlen mit beiden Seiten – geht das?

Sendung zum Nachlesen:

Heute Abend beginnt Jom Kippur, das jüdische Versöhnungsfest. Die Versöhnung zwischen Mensch und Gott steht dabei im Mittelpunkt. Versöhnung – eine schöne Vorstellung. Ich möchte glauben, dass Versöhnung und Frieden auch zwischen Menschen möglich sind. Es fällt in diesen Zeiten schwer, daran zu glauben. Jeden Tag höre und sehe ich die Nachrichten von Angriffen und Gegenangriffen im Nahen Osten. Wie soll es Versöhnung geben, wenn das Leid und der Hass täglich größer werden? 

Der Israeli Yarden Reskin sagt: "Was sie getan haben, ist unverzeihlich. Sie haben mir mein Mitgefühl genommen."(1) Yarden Reskin gehört zum Sicherheitsteam des Kibbuz Mefalsim in Israel. Er hat den Überfall der Hamas am 7. Oktober vor einem Jahr miterlebt und überlebt. 
Zum Jahrestag haben in dieser Woche viele an die Opfer, an die Trauernden, an die nach wie vor verschleppten israelischen Geiseln erinnert.  "Bring them home! - Bringt sie nach Hau-se!" ist die inständige Bitte und Forderung. Der 7. Oktober 2023 war schrecklich. Seine Folgen sind es auch. Die militärische Reaktion der israelischen Regierung gegen die Hamas-Terroristen im Gazastreifen und gegen die Hisbollah im Libanon hat zum Tod Tausender geführt. Der Konflikt bleibt nicht im Nahen Osten. Er begegnet mir hier auf den Straßen und Plätzen in Deutschland.

Vor ein paar Tagen habe ich das "Festival of Lights" in Berlin besucht. Das Brandenburger Tor, der Berliner Dom und viele weitere Wahrzeichen Berlins wurden mit Lichtinstallationen farben-froh in Szene gesetzt. Auf dem Bebelplatz zwischen Staatsoper und Alter Bibliothek kam ich an Stellwänden vorbei. An ihnen Plakate mit den Gesichtern und Namen der israelischen Geiseln. Darauf die Aufschrift "kidnapped" oder "murdered" – ermordet. Daneben zum Schutz Polizistinnen und Polizisten. Die bloße Erinnerung an die israelischen Geiseln löst antisemitische Aggression aus. Mich entsetzt das. 

Es sieht so aus, als könne man nicht gleichzeitig mitfühlen mit den Menschen in Israel sowie mit den Menschen in Palästina und im Libanon. Es scheint nur Entweder-oder zu geben. Eine Zer-reißprobe für Städte und Gemeinschaften. Radikal und laut werden Positionen vertreten. Es kommt sogar zu Ausschreitungen. Die Positionen stehen sich oft unversöhnlich gegenüber. 
Die Gewalt im Nahen Osten reißt unvorstellbare Wunden. "Sie haben mir mein Mitgefühl genommen", sagt der Israeli Yarden Reskin.  Für ihn ist unverzeihlich, was die Hamas-Terroristen Jüdinnen und Juden angetan haben. In dem Satz liegt der Schmerz über den Verlust der liebsten Menschen, der Schmerz über den Verlust des Mitgefühls. 

Mitgefühl. Vielleicht ist es das, was ich hier in Deutschland zeigen kann, auch wenn ich nicht auf die Straße gehe. Ich versuche, mit den Leidenden auf beiden Seiten mitzufühlen. Indem ich mich nicht abschotte von den Nachrichten, sondern hinschaue, hinhöre, mich erinnere. Indem ich Jüdinnen und Juden in meinem Bekanntenkreis frage: "Wie geht es euch seit dem 7. Oktober?" Indem ich die Geschichten der Menschen höre, die mit Palästina und dem Libanon verbunden sind. Ich weiß nicht, ob mir das gelingt. Aber ich versuche es. Mitgefühl. 

Ich halte fest an dem Glauben: Gott hat Gedanken des Friedens und nicht des Leides. (Jeremia 29,11) Ich halte fest an der Hoffnung: Es gibt Versöhnung. 
Ein Weg des Mitgefühls ist für mich Beten. Zurzeit bete ich so: "Gott allen Trostes, tröste die Menschen in Israel, in Gaza, im Libanon! Tröste alle Opfer von Gewalt und Hass im Nahen Osten! Gib die Kraft, alte und neue Feindschaft zu überwinden. Wir wissen keinen einfachen Ausweg. Gott, schenke du Versöhnung und Frieden!"

Es gilt das gesprochene Wort.

Literaturangaben:
(1)    https://www.zdf.de/dokumentation/tatort-israel/der-ueberfall-116.html.
 

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