Um was geht es, wenn eine Kirchengemeinde Geflüchtete aufnimmt?
Irreguläre Migration ist in aller Munde. Politiker übertrumpfen sich mit Forderungen, Geflüchtete abzuweisen oder abzuschieben. Dabei suchen Flüchtlinge schlicht Schutz. Ein Beitrag der evangelischen Kirche.
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In Deutschland gibt es über 600 Kirchengemeinden, die Flüchtlingen aus humanitären Gründen Kirchenasyl anbieten. Sie beherbergen sie eine Zeit lang in ihren Räumen als Gäste, bis sie einen Asylantrag stellen können oder ihr Fall erneut geprüft wurde.
Zum Beispiel Shirin (Name geändert). Die 35-jährige Frau aus dem Iran erzählte mir ihre Geschichte: Nach der Scheidung von ihrem gewalttätigen Mann zog sie zurück zu den Eltern und arbeitete als Grundschullehrerin. Ihr gemeinsames Kind blieb beim Vater. Shirin ging mit auf die Straße bei den Demonstrationen der Bewegung "Frau, Leben, Freiheit". Dadurch geriet sie zum ersten Mal ins Visier der Behörden. Monate später wurde sie von der Polizei im Auto auf ihrem Weg zum Yoga angehalten, weil sie ihre hellbraunen Haare nicht mit dem Kopftuch bedeckt hatte.
Die Polizisten sperrten Shirin in die Arrestzelle. Die Familie war alarmiert. Ihr reicher Onkel kam und schmierte den Leiter der Polizeiwache, damit er sie frei ließ - bevor sie dem Richter vorgeführt und bis zum Prozess für unbestimmte Zeit in Untersuchungshaft genommen würde. Dort hätten ihr, wie vielen Frauen in Einzelhaft, Übergriffe und sexualisierte Gewalt durch Gefängnisaufseher gedroht. Zugang zu einem Anwalt? Fehlanzeige. Dank ihres Onkels blieb sie diesmal verschont.
Shirin interessierte sich auch für den christlichen Glauben. Sie fand dort Halt und Ruhe. In ihrer Stadt ging sie zu Gottesdiensten der Untergrundkirche. Das waren heimliche Treffen zu Hause bei einer älteren Nachbarin mit zehn bis 20 neuen Christen. Sie lasen in der Bibel, beteten, aßen etwas. Die iranische Religionspolizei bekam Wind von den Treffen. Denn sich vom Islam abzuwenden, ist im Iran streng verboten. Es kann mit Gefängnis und im Extremfall sogar mit Hinrichtung bestraft werden.
Shirin bekam einen Anruf von ihrer Schwester: Sie solle nicht wieder nach Hause zurückgehen, dort sei die Religionspolizei aufgetaucht. Shirin versteckte sich und verließ das Land. Eine schwere Entscheidung, ihr Kind, den Beruf und ihre Familie zu verlassen, wer weiß, für wie lange. Aber besser als vom Regime inhaftiert zu werden.
Mit einem Besuchsvisum flog sie nach Schweden und stellte dort einen Asylantrag. Der Antrag wurde abgelehnt, ihre Abschiebung nach Teheran stand kurz bevor. Gut möglich, dass am Flughafen die Polizei schon auf sie gewartet hätte. Aus Angst floh Shirin weiter nach Deutschland und beantragte hier wiederum Asyl. Übertrat sie irregulär die Grenze? Ja. Hätte sie es regulär nach Deutschland geschafft? Nein. Denn nach der Dublin-Verordnung ist dasjenige Land für das Asylverfahren zuständig, das jemand auf der Flucht in Europa als erstes betritt.
Eine weitere Frau in einem Kirchenasyl ist Fatima, die ebenfalls einen anderen Namen hat. Mit 57 Jahren floh sie vor dem Krieg aus Nordsyrien, wo die Türkei kurdische Städte regelmäßig mit Bomben überzieht.
In Kroatien wurde Fatima von der Polizei mit anderen Frauen und Männern in einem Wald aufgegriffen. Die Gruppe fand sich in einer Wohnung in der Hauptstadt Zagreb wieder. Fatima berichtet: Die Polizisten hielten alle dort fest, ohne ausreichend Essen und Trinken, ohne bedarfsmäßigen Zugang zu Toilette und Bad. Nach zwei Tagen wurde sie nachts zu einer Unterschrift und einem Fingerabdruck unter ein kroatisches Dokument ohne Übersetzung gezwungen; ein Beamter führte mit Gewalt ihre Hand. Was sie da unterschrieb, verstand sie nicht. Sie erhielt auch keine Kopie.
Im Anschluss wurden Fatima und die anderen nachts um 2.00 Uhr auf die Straße und in die Kälte gesetzt. Die Gruppe hörte nur die Anweisung: "Geht weg!" Die Behörden brachten sie weder in ein Flüchtlingslager noch wurde ein ordentliches Asylverfahren eröffnet. Fatima stand auf der Straße ohne behördliche Anweisungen oder Ratschläge, wie es mit ihr weitergehen solle.
Was Fatima erzählt, passt in das Bild, das zahlreiche NGOs, Medien, europäische Institutionen und Gerichte von der Behandlung Geflüchteter in Kroatien, aber auch in Tschechien, Lettland, Rumänien, Bulgarien und anderen Ländern mitten in Europa beschreiben. Flüchtlinge dort sind systematisch dem Risiko staatlich angeordneter oder tolerierter Polizeigewalt, Verwahrlosung, Inhaftierung oder Pushbacks ausgesetzt.
Auch Fatima schaffte es nach Deutschland und beantragte hier Asyl. Auch sie übertrat irregulär die Grenze. Die Dublin-Regelung basiert auf der Annahme, dass alle europäischen Staaten Flüchtlinge aufgrund einheitlicher rechtlicher europäischer Standards aufnehmen und versorgen. Das aber ist nicht der Fall.
Das sah eine Kirchengemeinde genauso. Fatima bekam einen Platz im Kirchenasyl. Dort blieb sie wie Shirin so lange, bis Deutschland ihr Asylverfahren übernahm. Die beiden Frauen konnten aufatmen, zur Ruhe kommen, weiter Deutsch lernen und in der Gemeinde Freunde finden. Ihr Asylantrag wurde letztlich positiv beschieden.
Die Rede von der irregulären Migration unterstellt, dass Flüchtlinge etwas Verbotenes und Kriminelles tun. Das tun sie nicht. Sie suchen schlicht Schutz, der ihnen im Fall von Krieg, religiöser oder politischer Verfolgung als Grundrecht zusteht.
Shirin und Fatima machen gerade einen Sprachkurs auf B2-Niveau. Fatima hilft anderen, die ebenfalls aus ihrem Heimatland fliehen mussten. Shirin hat ein Praktikum als Erzieherin in Aussicht. Sie wird ihren Weg beruflich und privat gehen. Und hoffentlich ihren achtjährigen Sohn wiedersehen.
Weiterführende Hinweise des Autors:
Schwachstellen im kroatischen Asylsystem sind dokumentiert durch den Europäischen Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT, https://rm.coe.int/1680a4c199), die Schweizer Flüchtlingshilfe (https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Juristische_Themenpapiere/220913_Polizeigewalt_final.pdf, S. 9) und mehrere Verwaltungsgerichtsurteile (22 L 691/24.A, M 10 K 22.50479, M 10 K 23.5059