Morgenandacht
In Bewegung
17.01.2015 05:35

„Ohne Bewegung ist nur der Tod,“ sagt mein Physiotherapeut. Und lacht dabei. Dann geht es wieder los: Rückengymnastik auf der Matte, Krankengymnastik an den Geräten. Kreuzheben, Bankdrücken, Kniebeugen, Beinpressen – alles mit Gewichten. Die meisten hier haben Rückenbeschwerden. Auch ich gehöre zu denen, die schon lange keinen Sport mehr treiben, jedenfalls nicht regelmäßig. Einen Stift halten kann ich gut. Aber Kniebeugen mit zusätzlichen Gewichten auf den Schultern? Das musste ich lernen. Zweimal die Woche trainiere ich nun in einer kleinen Gruppe.

 

„Viele wollen einfach keine Verantwortung übernehmen“, meint unser Therapeut halb verärgert, halb verwundert. „Die haben sich 30 Jahre lang nicht richtig bewegt, und dann hätten sie am liebsten eine Operation, die alles wieder gut macht. Aber das geht nicht. Man muss etwas tun. Verantwortung übernehmen. In Bewegung bleiben.“

 

Ohne Bewegung ist nur der Tod. Ich spiele in Gedanken mit diesem Satz. Was bewegt Menschen? Wenn in den Nachrichten schockierende Bilder zu sehen sind, werden Menschen berührt. Ein schwerer Unfall auf der A3, die Trümmer eines abgeschossenen Flugzeugs, Flüchtlinge, die auf einem völlig überfüllten Boot an der Küste Lampedusas ankommen. Diese Bilder bewegen. Dann bin ich nicht nur persönlich berührt, ich will auch, dass etwas anders wird. Ich möchte, dass ein Friede gefunden wird in der Ukraine, der belastbar ist und Menschen wieder in Ruhe leben lässt; ich möchte, dass Menschen in Afrika nicht aus ihrer Heimat fliehen müssen, und wenn doch, dann nicht so übers Mittelmeer. Es ist wie bei den Rückenschmerzen. Es tut weh – und es muss etwas anders werden.

 

Persönliche Schicksale gehen uns oft nah. Im Bekanntenkreis hat eine Frau ein halbes Jahr lang mit dem Krebs gekämpft und ist am Ende gestorben. Die Familie, die besten Freunde, die Menschen auf der Palliativstation haben sie nach Kräften begleitet. Schmerzen gelindert, zugehört, ausgehalten. Auch eine Ehrenamtliche aus dem Hospizdienst war zweimal die Woche da. Dann konnte der Ehemann mal raus, etwas erledigen oder für sich sein – und wusste seine Frau begleitet. Mit der Hospizhelferin konnte er auch mal über Ängste reden, über die er in der Familie nicht gerne gesprochen hätte. Das war bewegend. Aus solchen Erfahrungen mit Krankheit, Tod und Trauer ist  die Hospizbewegung entstanden. Menschen übernehmen Verantwortung. Niemand soll allein sein in so schweren Zeiten des Lebens.

 

Von etwas bewegt sein, ist ein starkes Gefühl. Erst recht, wenn es um Menschen geht, die wir kennen. Jeden Freitag macht sich Frau Jansen auf den Weg zur Tafel, einer Lebensmittelausgabe für Bedürftige. Die öffnet um 14 Uhr im evangelischen Gemeindezentrum. Frau Jansen wohnt im Nachbardorf und kommt zu Fuß. Sie ist 72 Jahre alt und geht ein wenig gebückt. Sie zieht einen kleinen Koffer auf zwei Rollen hinter sich her und hofft, dass es wieder einiges gibt, was sie mitnehmen kann. Obst, Gemüse, Milch, Brot. Mit ihren kleinen Schritten zieht sie jeden Freitag los. Sie braucht fast eine Stunde für einen Weg. „Dass es mitten in Deutschland so eine Armut gibt, habe ich nicht gewusst,“ sagt eine ehrenamtliche Helferin, die gerade neu angefangen hat. Das Schicksal dieser Frau geht ihr nah.

 

Von etwas bewegt sein, ist ein starkes Gefühl. Und es bewegt Menschen dazu, selber etwas zu tun. Etwa 20 Ehrenamtliche helfen bei der Tafel mit. Sie wollen, dass etwas anders wird. Ihre Arbeit ist auch ein stiller Protest gegen die Armut in unserem Land. Sie wollen etwas bewegen.

 

In Kirchengemeinden gibt es ein hohes zivilgesellschaftliches Engagement. Das haben Soziologen herausgefunden. An keinem anderen Ort finden Menschen so gute Möglichkeiten, um etwas zu bewegen. Ein Umweltbewegter kümmert sich um die Solaranlage auf dem Kirchendach und findet Mitstreiter dafür, eine Gruppe von Frauen gründet einen Besuchsdienst, sie gehen zu älteren und kranken Menschen in der Nachbarschaft, Jugendliche arbeiten selbst im Jugendzentrum mit, sie leiten Gruppen, backen Pizza, schlichten Streit.

 

Ohne Bewegung ist nur der Tod. Viele Menschen wollen etwas bewegen. Sie wollen selbst Verantwortung übernehmen. Das ist nicht selbstverständlich. Für die meisten ist es eine gute Erfahrung. Ich kann etwas bewirken. Wenn ich etwas ändere, wird auch etwas anders.