Wort zum Tage
Was ist Heimat?
20.01.2016 05:23

Was ist Heimat? Zunächst einmal sicher der vertraute Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Dort wird meine Sprache gesprochen. Da liegen meine Wurzeln – familiär, kulturell, religiös. Doch was ist, wenn das Land, in dem ich geboren bin, kein Ort zum Leben ist, kein Ort, in dem Kinder eine Zukunft haben? Dann kann es die Sehnsucht nach Heimat sein – nach einem Ort, wo es sich in Frieden leben lässt – die Menschen dazu bringt, ihre Heimat zu verlassen. Das war schon so, lange bevor Fremdwörter wie Migration oder Integration verraten, wie schwer es ist, in der Fremde heimisch zu werden.

 

Ihr Leben lang ist Noomi auf der Suche nach Heimat. Die hebräische Bibel erzählt im Buch Ruth ihre Lebensgeschichte. Einst hat Noomi mit ihrem Mann und zwei kleinen Söhnen ihre Heimat Juda verlassen, weil es in ihrem Land nicht mehr genug zu essen gab. Die Söhne wachsen auf und heiraten in dem fremden Land der Moabiter. Eine der Frauen ist Ruth. Nach vielen guten Jahren geißeln schwere Krankheiten die Familie. Sowohl Noomis Mann als auch ihre Söhne sterben.

 

Noomi und ihre Schwiegertöchter bleiben alleine zurück. Ein zweites Mal in ihrem Leben bekommt Noomi den Verlust von Heimat schmerzlich zu spüren. Ohne die geliebten Menschen an ihrer Seite wächst die Sehnsucht nach dem Ort und den Menschen ihrer Kindheit und Jugend. Und so fasst sie den Entschluss, den monatelangen Fußweg nach Hause anzutreten. Ihre Schwiegertöchter, Orpa und Ruth, bedrängt die alte Frau geradezu, sie nicht zu begleiten. Sie weiß, was es bedeutet, die Heimat zu verlassen und sich als Ausländerin in einer fremden Welt zu behaupten: Anfeindungen und Misstrauen, das Getuschel hinter dem Rücken und ein Leben lang die Fremde bleiben – auch wenn sie sich noch so sehr anstrengt, dazu zu gehören. All das möchte Noomi ihren Schwiegertöchtern ersparen. Sie sind noch jung, und die Lebensbedingungen in ihrem Land sind gut. Noomi ist der Meinung, sie sollten jetzt zu allererst an ihre Zukunft denken und hier in ihrer Heimat wieder heiraten. Da, wo Noomi ursprünglich herkommt, lassen die Gesetze keine Ehen mit Ausländerinnen und Andersgläubigen zu.

 

Während Orpa sich daraufhin tränenreich von ihrer Schwiegermutter verabschiedet, lässt Ruth sich nicht wegschicken. Kein auch noch so sachlich begründetes Argument kann sie davon abhalten, bei Noomi zu bleiben.

 

„Wohin du gehst, dahin gehe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott“, erklärt sie kurzerhand ihrer Schwiegermutter und stuft damit die Fragen nach nationaler und religiöser Zugehörigkeit als zweitrangig ein. Für Ruth zählt einzig und allein der Mensch. Und diesen Menschen möchte sie in seiner Not nicht allein lassen – egal, wohin der Weg sie führen wird.

Sendungen von Pastorin Elke Drewes-Schulz