Wort zum Tage
Kain und Abel
12.11.2016 05:23

Der morgige Volkstrauertag, an dem wir der Toten und Opfer der Kriege gedenken, lässt mich an die biblische Geschichte von Kain und Abel denken. Als sie Gott ein Opfer darbringen, kommt es zum Brudermord. Merkwürdig, dass der Anlass dafür ausgerechnet ein religiöses Ereignis ist. In einer alten Auslegung heißt es: Kain und Abel hätten miteinander gestritten, weil jeder von ihnen den heiligen Tempel auf seinem Land errichten wollte. Sagen die Menschen nicht immer, dass sie für einen heiligen Zweck kämpfen? Diese Ausrede wurde von jeher gebraucht, wenn Blut vergossen wurde oder es zu einem Krieg kam. Wir Menschen lügen uns vor, für den allerbesten, für einen unverzichtbaren Zweck kämpfen und töten zu müssen. Ob wir nun im Großen an die Konflikte in Afghanistan oder Syrien denken oder im Kleinen an Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Menschen – jeder glaubt für Streit und für Gewaltanwendung den allerbesten Grund zu haben.

Wir denken, der Brudermord geschehe erst da, wo Kain seine Hand gegen Abel erhebt und ihn tötet.  Nein, er fängt viel früher an. Da nämlich, wo’s heißt: Kain senkte finster seinen Blick. Denn wo einer seinen Blick senkt, da sieht er seinen Bruder und seine Schwester nicht mehr.

 

Wäre es nicht großartig, wenn die Geschichte der Brüder Kain und Abel noch einmal neu beginnen könnte? Und Abel einfach aufsteht. Eines der bekanntesten Gedichte von Hilde Domin erzählt das, fordert das:

 

Abel steh auf / es muss neu gespielt werden /

täglich muss es neu gespielt werden /

täglich muss die Antwort noch vor uns sein /

Die Antwort muss ja sein können …

 

Was für eine Forderung?! Abel, das Opfer, soll aufstehen, damit sein Bruder Kain, der Mörder, eine zweite Chance bekommt. Ist das nur ein frommer Wunschtraum? Keinesfalls. Denn Gott lässt Kain tatsächlich neu anfangen. Er will nicht, dass Schuld und Tod das letzte Wort über Menschen und Völker sprechen. Gottes Liebe gibt Kain eine neue Chance. Denn Abel ist aufgestanden in Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen.

Wo dieser neue Abel im Menschen lebt und sein Denken, Reden und Tun bestimmt, kommt es zu einem neuen Anfang. Unser Blick muss sich nicht mehr wie bei Kain verfinstern. Der Tag Jesu Christi ist angebrochen. In seinem Licht entdecken wir in jedem Menschen unseren Bruder und unsere Schwester. Sein Licht vertreibt die Finsternis. Auch die Finsternis von Streit, Krieg und Tod.