Morgenandacht
Alle Menschen lügen
29.11.2018 06:35
Sendung zum Nachlesen

"Wir leben im Zeitalter der Lüge. Alles ist Fake. Wir können nicht mehr unterscheiden, wo die Lüge endet. Wir nehmen Abschied vom Universum, das auf Tatsachen basiert." (1) Eine Erkenntnis des spanischen Schriftstellers Ruiz Zafon.

 

Und das ist schlimm. Denn Lügen rütteln an unserer Wahrnehmung, sie verschieben Grenzen, hinterlassen Verwirrung. Wer Macht hat, meint definieren zu können, was stimmt. Dreist und unverfroren wurde so der Begriff der Alternativen Fakten in Umlauf gebracht. Die Autoindustrie lügt über Abgaswerte. Bots und Trolle treiben mit Falschinformationen im Internet ihr Unwesen. Gezielt und absichtsvoll werden Menschen in die Irre geführt.

 

Wie die uralte falsche Schlange, die schon in biblischer Zeit Eva mit suggestiven Fragen ins Verderben führen wollte. "Die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott, der Herr gemacht hatte," so heißt es im 1. Buch Mose (Gen. 3,1a). Tückisch schleimt sie sich ein, ihre Taktik von Alters her: Mit Halbwahrheiten, Verzerrungen und Behauptungen zu operieren.

 

"Ja, sollte Gott wirklich gesagt haben: ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?" (Gen. 3,1b) Eva, arglos, möchte einen Irrtum aufklären: Nur den Baum mitten im Garten habe Gott gemeint. Nicht alle Bäume sind es, nur einer, von dem wir nicht essen dürfen, – damit wir nicht sterben. (Gen. 3,2f) So ist es richtig, erklärt Eva der Schlange. Sie rechnet nicht mit einer Falle. Die Schlange aber setzt nach: Ihr werdet keinesfalls des Todes sterben, sondern wissen, was Gut und Böse ist. (Gen. 3, 4f) So hat sie Eva eingewickelt, umgarnt in ein Netz von Lügen und Halbwahrheiten. Die Schlange verführt zur verbotenen Tat, und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Die Lüge wirkt, damals und heute. Auch bei uns, den Nachkommen Evas.

"Ich sprach in meinem Zagen: Alle Menschen sind Lügner," so sinniert ein ernüchterter Psalmbeter im 116. Psalm (V. 11). Die Lüge hat schon damals die Welt durchdrungen.

 

Paradiesische Unschuld und Arglosigkeit sind lange vorbei. Das bedeutet heute, mit der Lüge zu rechnen, auf der Hut zu sein. Lügen produzieren Opfer. Sie beschuldigen zu Unrecht, vernichten Menschen durch üble Nachrede. Das geht heute über die sozialen Medien ganz schnell. Dass in der Politik auch mal gelogen wird, ist lange bekannt. Lügen werden genutzt im Kampf um die politische Macht.

 

Aber die unverfrorene Weise, für die der Begriff "Fake News" steht, hat eine neue Dimension hervorgebracht, vergiftet die politische und die zwischenmenschliche Kultur in der Wurzel. Dieser permanente und gezielte Einsatz von Lügen macht es im Alltag immer schwerer zu entscheiden, wessen Version denn nun stimmt. So machen Lügen schließlich orientierungslos, zerstören Vertrauen. Lügen sind böse.

 

Ich brauche aber in der Gesellschaft Orientierung, die durch den Lügensumpf hindurchführt. Für mich gibt es diese auch: Richtlinien für ein aufrichtiges und konstruktives Zusammenleben – die einen Wert darstellen, der gegründet ist, Wurzeln hat in der Geschichte der Menschheit.

 

Weil die Lüge ein Angriff auch auf die Würde des Menschen ist, zählt für mich dazu der 1. Artikel unseres Grundgesetzes aus dem Jahr 1949: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist Menschenrecht. Für alle – und für jeden einzelnen.

 

Direkt auf die Lüge zielt das 8. Gebot aus den 10 Geboten, die Gott Mose auf dem Berg Sinai mitgab: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten, – moderner übersetzt: Du sollst über deine Mitmenschen keine Lügen erzählen. (Ex. 20,16)

 

Auf die Menschenrechte und das Grundgesetz haben sich Menschen geeinigt, in konflikthafter inhaltlicher Auseinandersetzung. Ein tragfähiger Grundkonsens. Die zehn Gebote sind nach biblischer Darstellung göttlichen Ursprungs. Das mag ihnen zusätzliche Autorität verleihen – doch auch ihre Entstehung ist nicht vorstellbar, ohne dass sich vor Tausenden von Jahren eine menschliche Gemeinschaft darauf geeinigt hat, diese Gebote als ihre Lebensrichtlinien anzuerkennen. Mir hilft beides, wachsam zu bleiben, kritisch nachzufragen, nicht gleich alles zu glauben.

 

Die Lüge ist böse. Aber es gibt nicht nur das Böse in der Welt, sondern zum Glück auch das Gute. Gemeinsam, in ehrlicher Auseinandersetzung, lässt sich das Gute finden, so wie es in der Bibel heißt: "Prüfet alles, aber das Gute behaltet." (1. Thess. 5,21)

 

(1) Interview mit dem Hamburger Abendblatt am 7.4.17