Birgit Gudjonsdottir (https://www.passionsspiele-oberammergau.de)
Passion für alle?!
Tradition, Event-Kultur und der Glaube
21.08.2022 08:35

 

Das beschauliche Oberammergau in Bayern ist wieder im Passionsfieber. Das Dorf ist Schauplatz der „Passionsspiele 2022“. Gäste aus dem ganzen Bundesgebiet und aus aller Welt kommen. Sie wollen sehen, wie hier die Leidensgeschichte von Jesus und sein Tod am Kreuz aufgeführt wird - vor einer wunderschönen Bergkulisse.
Und fast das halbe Dorf spielt mit. 1400 Erwachsene und 400 Kinder. Viele nehmen dafür einen Sommer lang frei oder gehen abends, nach getaner Arbeit noch zu ihrem Einsatz ins Passionstheater. Die Hauptrollen dürfen das Dorf die ganze Saison nicht verlassen.
Dazu Bürgermeister Andreas Rödl:

 „Es gibt ja viel gerade in dem Alter ab 25 aufwärts, die sich mit Kindern und Beruf da wahnsinnig Stress auftun und das kriegen natürlich die Arbeitskollegen außerhalb von Oberammergau auch mit und fragen dann immer, warum tust du dir das an? Und alle sagen: Es ist halt Passion. Für uns ist das so eine Selbstverständlichkeit, diese Leidenschaft, die ist einfach mit drinnen, weil man von kleinauf mitgenommen wird.“

Auf der Bühne, die wie eine Jerusalemer Tempelanlage aussieht, ist das jüngste Kind ein paar Monate alt, die älteste Darstellerin 96 Jahre. In aufwendigen Kostümen - glänzende Brokatstoffe für Händler und Priester, grobe Stoffe für Jesus, seine Freunde und das einfache Volk - zeigen sie, wie Jesus vor 2000 Jahren gelebt und gewirkt hat.
Und auch hinter der Bühne lernen sie sich noch einmal neu kennen, erzählt Frederik Mayet, der den Jesus spielt:

 „Da sind die auf der Bühne, die aus der Kirche ausgetreten sind, die Armen und die Reichen, der Alkoholiker und der AFD-Wähler, der Grünen-Wähler, der Chefarzt und der einfache Arbeiter, der Arbeitslose, die sind alle mit auf der Bühne, und man bringt aber gemeinsam was zusammen, das ist auch das, was das Dorf so zusammenschweißt. Weil man miteinander auskommt oder auch auskommen muss. Man ist teilweise in der Garderobe und da sind Menschen, mit denen man sonst nichts zu tun hätte. Aber dann hat man halt dieses halbe Jahr Probezeit, man hat das halbe Jahr, wo man gemeinsam auf der Bühne steht und dann macht man doch etwas zusammen und überwindet Gegensätze, die man zuvor vielleicht im Kopf hat und man kommt ins Gespräch und nähert sich an. Ist ja ganz oft so in der heutigen Zeit, man sucht sich seine Freunde, man sucht sich, die, die das Gleiche denken, wie man selber und das ist beim Passionsspiel einfach anders.“

Manche Mitwirkende merken sogar, dass sie besonders viel gemeinsam haben, erzählt Andreas Rödl, der diesmal im Chor auf der Bühne steht:

 „Meine Eltern haben sich 1980 in der Passion kennengelernt, ich habe meine Frau 2010 in der Passion kennengelernt, der Ort wächst zusammen, es entstehen neue Freundschaften. Man trifft seine große Liebe, das bekommt der Besucher ja so gar nicht mit…"

Lange war es unsicher, ob die Spiel-Saison auch in Corona-Zeiten starten kann. Zwei Jahre war das Spiel coronabedingt schon verschoben worden. Trotzdem, das Engagement aller ist ungebrochen.
Für Oberammergau sind die Passionsspiele auch ein Wirtschaftsfaktor, das Dorf lebt vom Tourismus. An den 5 Spieltagen pro Woche pilgern die Besucherinnen und Besucher in großen Strömen durch die Gassen. Viereinhalb Tausend Menschen sitzen abends im Theater, ungefähr so viel, wie sonst in Oberammergau leben.
Normalerweise kommt ein klassisches Opern- und Konzertpublikum. Um auch Jüngere für die Passion zu begeistern, gab es erstmals ein Wochenende nur für sie. Tausende Jugendliche kamen von überall her, sahen die Generalprobe und trafen die Laien-Darsteller:

 „Das war ganz super. Du hattest da auf einmal ein ganz junges, ein interessiertes Publikum, das war eine der schönsten Vorstellungen eigentlich. Das war natürlich die Idee, da kommen jetzt junge Menschen, die treffen sich mit Gleichgesinnten, es gab danach eine Party, man hat danach sich ausgetauscht, es gab Diskussionen und es hat total viel Spaß gemacht.“

 

Seit 1634 spielen die Oberammergauer die Passion, die Leidensgeschichte von Jesus und seinen Tod am Kreuz. Damals versprachen die Dorfbewohner: sie führen die Passion von Jesus alle zehn Jahre auf, wenn sie von der Pest verschont würden. Und das tun sie bis heute. Dafür lassen sich viele extra die Haare und Bärte lang wachsen, wie zur Zeit Christi. Mitmachen beim Laienspiel dürfen alle, die in Oberammergau geboren sind oder hier mindestens 20 Jahre wohnen, ausgenommen davon sind die Kinder. Eine alte Regel, die Spielleiter Christian Stückl heute für überholt hält.

 „Also da gibt es 19 jährige, denen sagt man, ihr müsst halt 20 Jahre warten, (….) dann warten die ewig lang, ich glaub es ist ganz wichtig, dass man hier junge Leute integriert, dann sind sie auch als alte integriert, auch das Spielrecht, dass ich als Regisseur nie weiß, wieviel Leute habe ich, das müssen wir einschränken, das funktioniert nicht.“

Der Spielleiter kritisiert am Spielrecht auch, dass manche sich die Rolle selbst aussuchen wollen - und deshalb für andere Aufgaben nicht zur Verfügung stehen. Hinter den Kulissen, bei der Feuerwehr, beim Einlass oder in der Garderobe arbeiten deshalb relativ viele, die nicht spielberechtigt sind.

Allen gemeinsam aber ist der Sinn für diese besondere, fast 400 Jahre alte Tradition in Oberammergau. Kaum ein Schaufenster, das nicht Fotos früherer Aufführungen zeigt. Doch die Tradition selbst wandelt sich. Inzwischen spielen Frauen gleichberechtigt und heute herrscht Religionsfreiheit. Während Darsteller früher Mitglieder der Kirchen sein mussten, sind heute Katholiken, Protestanten, Muslime oder Andersdenkende gemeinsam auf der Bühne. Wer eine der 20 begehrten Hauptrollen bekommt, entscheidet der Spielleiter - auch mal gegen Widerstände im Dorf. Er findet es spannend, dass die Passion diesmal vor allem von 25-30jährigen getragen wird und der junge Judas hat türkische Wurzeln. Mit der mutigen Besetzung verbindet Christian Stückl auch eine Hoffnung:

 „Ich hoffe und warte auf den Nachwuchs, ich habe jetzt den Jungen die Rollen übergeben und ich hoffe, dass von denen auch eines Tages jemand die Regie übernimmt.

Seit 35 Jahren ist Stückl Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele. Er hinterfragt die alten Traditionen, will eher integrieren als ausgrenzen. Er freut sich, wenn Fremdes nicht fremd bleibt. Wenn Neugier da ist und Offenheit.

Und eine besondere Erfahrung ist es sowieso für jede oder jeden hier auf der Bühne:

 „Wenn man da in der ersten Szene zum ersten Mal auf der Bühne als Jesus einreitet, die Kinder singen, um einen Hosianna schreien, und wenn man in den voll besetzten Zuschauerraum sieht, da geht einem jedes Mal das Herz auf.“

 

Der Jesus von heute in Oberammergau ist ein sozialer Jesus. Einer, der sich um Kranke und Fremde kümmert, dem Hierarchien aller Art egal sind. Und er will bedingungslos Frieden.

Frederik Mayet spielt Jesus zum zweiten Mal, aber diesmal ganz anders als 2010:

 „Da hat der Christian Stückl gesagt, wir brauchen 2022 einen lauten, einen energischen, einen kräftigeren Jesus. Die Welt hat sich geändert. Die Welt ist chaotischer geworden, die Ungerechtigkeit in der Welt ist größer geworden, es gibt mehr Kriege, mehr, die hungern. Wir brauchen wieder einen Jesus, der die Botschaft in die Welt schreit und energisch in die Welt bringt. (…) Das war dann bei mir die Herausforderung beim Proben, wo er oft gesagt hat, Frederik, weg mit dem Heiligen Ton, das war 2010, 2022, bring deine alten Sätze aus dem Kopf raus.“

In vielen Orten Europas haben Passionsspiele eine verhängnisvolle Wirkungsgeschichte gehabt. Denn die seit dem Mittelalter verbreitete antijüdische Grundhaltung findet sich auch in christlichen Aufführungen von Jesu Leid und Sterben. Sie gipfelt in dem Vorwurf, dass die Juden Schuld am Tod Jesu waren.

Heute ist das, was in Oberammergau auf der Bühne passiert, vielschichtiger. Es wird gezeigt, welche Schuld der Römer Pilatus auf sich geladen hat, das wankelmütige Volk. Oder der Verräter Judas wird selbst verraten und leidet an der Welt, wie sie ist. Das Laien-Spiel von heute zeigt den Juden Jesus in seinem gesellschaftlichen Umfeld. Jesus war ein starker Streiter für den Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Streitgespräche mit Andersdenkenden und hebräische Passagen im Stück unterstreichen das. Die ganze Inszenierung zeigt, wie sehr altes und neues Testament, Jüdisches und Christliches, aufeinander bezogen sind. Antisemitismus soll keinen Platz im Spiel und auch nicht im Leben der Darsteller haben, findet Christian Stückl, und er fordert deshalb eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem alten Bibel-Stoff:

„Ja, ich glaube, ich bin da schon ein anstrengender Regisseur. Wir haben vor 30 Jahren eingeführt, dass wir die Proben mit den Hauptdarstellern in Israel beginnen, dass wir da 14 Tage wirklich einen harten Jesus Kurs machen. Da wird wirklich 14 Tage durchdiskutiert. Da ist nicht einmal Zeit, abends in die Kneipe zu gehen.“

Denn es soll auch Zeit sein, gemeinsam auszuloten, was Jesus wichtig war und was er uns heute noch zu sagen hat. Wie sich Jesus-Darsteller Frederik Mayet erinnert:

 „ …und haben wir die Heiligen Stätten besucht, sind die Wege Jesu abgeschritten und haben dabei über die Botschaft Jesu geredet, welche revolutionären Ideen der Jesus hatte, der Umgang mit den Menschen. Die ganz einfachen Worte, die er gesagt hat, die sind für mich so bewegend, also liebe deinen Nächsten wie dich selbst, wenn wir alle Christen oder alle, die Jesus folgen, so handeln würden, würden wir in einer besseren Welt leben.“

 

Auch die Hoffnung auf eine bessere Welt mag viele Zuschauerinnen und Zuschauer in die Passionsspiele 2022 ziehen. In der Theaterpause lädt die evangelische Kirchengemeinde nebenan zu Speisen und Gesprächen. Die Theaterbesucher staunen darüber, wie aktuell der alte Bibelstoff ist. Jesus will Frieden und er predigt bedingungslose Feindesliebe. Wer das heute sieht, denkt auch über die eigene Verantwortung und Haltung im Leben nach.

Man erlebt hier in Oberammergau engagierte Menschen, die auch mal Vorurteile über Bord werfen, die neue Wege gehen und auch über Widerstände hinweg das Gemeinsame nicht aus den Augen verlieren.

 „Wir leben halt auch nicht mehr vor 400 Jahren, da hat sich einfach ganz viel getan in der Welt und in der Gesellschaft, aber sowas wie die Passionsspiele, diese Tradition ist etwas Einmaliges, was nur ganz wenige Orte in der Welt noch haben, eine so lange und lebendige Tradition, aber man muss die Leidenschaft dahinter weitergeben.(…) Warum es das Passionsspiel, glaube ich, heute noch gibt, ist der Grund, weil man immer dran gearbeitet hat, neue Texte gemacht hat, das an die Zeit angepasst hat, neue Bühnenbilder, neue Kostüme, und immer den Mut hatte, das Passionsspiele weiterzuentwickeln und neue Ideen einzubringen. Von dem her, finde ich Traditionen etwas Schönes, wenn sie nichts Einengendes sind und eine Idee weitergeben.“

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Musik dieser Sendung:

Solisten, Chor und Orchester der Oberammergauer Passionsspiele, Rochus Dedler/Markus Zink: Musik der Oberammergauer Passionsspiele, Hook Music, 2022:

  1. Track 05: Der brennende Dornbusch.
  2. Track 13: Der Kreuzweg.
  3. Track 16: Die Auferstehung.