gemeinfrei via pexels / Suzy Hazelwood
Über die Macht des Erinnerns
ein Beitrag der evangelischen Kirche
12.07.2025 10:00

Manche wollen einen Schlussstrich ziehen und nichts mehr über die Verbrechen der NS-Zeit hören. Damit schneiden sie nicht nur die Vergangenheit ab. Sie verstellen auch die Zukunft. Ein Beitrag der evangelischen Kirche. 

 

Beitrag nachlesen:

Erinnerung kann weh tun, selbst nach Jahren und Jahrzehnten. Aber der Schmerz kann auch heilen. "Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung." Dieser Ausspruch des jüdischen Gelehrten Baal Shem Tov (1689 - 1760) wird oft zitiert, wenn es um schmerzhaftes Gedenken und Erinnern geht. Aber was bedeutet dieser rätselhafte Satz? Wenn man Geschichten aus der Vergangenheit erzählt, die nur scheinbar vergangen ist, kommt man dem Rätsel auf die Spur.
Wie zum Beispiel Geschichten aus der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. 80 Jahre sind seit Kriegsende vergangen. Inzwischen ist eine Kultur des Gedenkens entstanden, die die Opfer würdigen und aus der Vergangenheit lernen will. Aber es bleibt viel zu tun. 

Im Mai 2025 veröffentlichte die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" eine Studie. Über 3000 Menschen in Deutschland waren befragt worden nach ihrem Geschichtsverständnis. 38 Prozent der Befragten sagten: Sie wollen einen "Schluss-Strich". Es solle genug sein mit dem Erinnern an das NS-Unrecht. Eine Zahl, die gegenüber den Vorjahren deutlich gestiegen ist. 
Ist das verwunderlich? Ja, die Erinnerung kann erschüttern, auch wenn die Nachgeborenen nicht unmittelbar getroffen sind. Zudem erleichtert der zeitliche Abstand das Vergessen-Wollen. Je allgemeiner das Gedenken, je abstrakter die Zahl der Opfer und je unbekannter die einzelnen Schicksale, desto verführerischer ist es, davon nichts mehr wissen zu wollen. Die Zeitzeugen verstummen allmählich nach drei Generationen. Aber die Orte erzählen weiter, die Gebäude, die Straßen. Mitunter auch kleine idyllische Inseln.

Die Insel Reiswerder zum Beispiel. Sie liegt im Tegeler See in Berlin, ist etwa 330 m lang und 180 m breit. Winzig also. Es gibt auf der Insel keine Strom- oder Wasserversorgung. Während des Zweiten Weltkriegs fanden hier Menschen Zuflucht vor den Bomben, aber auch vor Verfolgung. Bis zum 23. August 1944 lebten in Gartenlauben versteckt und unter falschem Namen fünf Menschen jüdischen Glaubens: Gerda Lesser, Lotte Basch, Hermann Dietz, Erna und Gerhard Fleck. Sie wurden verraten, von der Gestapo verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Drei von ihnen, Erna Fleck, Lotte Basch und Hermann Dietz haben überlebt.

Jahr für Jahr können Inselbesucher vom Leben dieser Fünf hören, wenn Führungen von "Denk Mal Am Ort" stattfinden. "Denk Mal am Ort" gibt es seit 2016. Immer wenn sich das Kriegsende jährt, finden Führungen an authentischen Orten statt. Die Zuhörenden erfahren, wie die Verfolgten dort gelebt und gelitten haben. Die Geschichten, die erzählt werden, tun weh. Aber sie heilen auch: "Denk Mal Am Ort ist für mich ein wichtiger Teil meines Lebens geworden. Ihr schenkt den Menschen ihre Würde zurück", schreibt Claudia Samter auf der Internetseite von "Denk Mal Am Ort". Sie ist die Tochter von Überlebenden und lebt in Argentinien. 

Die Erzählerin der Fünf von Reiswerder ist die Schauspielerin und Autorin Christiane Carstens. Eine Ausstellung über die Geschichte von Reiswerder hat ihre Neugier geweckt. Denn es gab dort nur karge Informationen über die Verfolgten. Über Jahre hinweg hat sie dann die Geschichte der Fünf recherchiert und schließlich in einem Buch veröffentlicht. Die Recherche war in keiner Hinsicht einfach, organisatorisch und auch psychisch. Denn die Fünf sind ihr im Laufe der Nachforschungen ans Herz gewachsen. Gerda Lesser zum Beispiel, die drei Tage vor ihrem 18. Geburtstag in Auschwitz ermordet wurde. 
Oder Erna Fleck, deren Mann Gerhard in einem Außenlager von Auschwitz starb, kehrte nach Kriegsende nach Berlin zurück. Gegenüber von Reiswerder betrieb sie eine Erfrischungsbude, die nur in der Sommersaison rentabel war. Oft stand sie vor dem wirtschaftlichen Aus. Ihre Anträge auf Wiedergutmachung oder Sozialhilfe verliefen im Sand. Erst in den 1960er Jahren erhielt Erna Fleck eine kleine Abfindung von 2000 DM. 

Auch Hermann Dietz überlebte das Konzentrationslager. Schwerkrank kehrte er nach Berlin zurück und versuchte, eine dauerhafte Arbeitsstelle zu finden. Aber aufgrund des § 131 im Grundgesetz hatten nur diejenigen einen Anspruch auf langfristige Arbeit, die bei Kriegsende im öffentlichen Dienst standen oder aus anderen als beamten- und tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden waren. Verfolgte und ehemalige KZ-Häftlinge waren von dieser Regelung ausgeschlossen. 


Lotte Basch wanderte nach dem Krieg nach Amerika aus. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes war sie kaum arbeitsfähig. Die Anerkennung als NS-Opfer zog sich hin. Da sie nie eine Quittung für das Bargeld erhalten hatte, das bei ihrer Verhaftung beschlagnahmt wurde, galt sie bei den deutschen Entschädigungsbehörden als mittellos zum Zeitpunkt ihrer Verhaftung, also ohne Anspruch auf Entschädigung. Erst 1969 erhielt Lotte Basch eine Entschädigung und Rente von 200 DM im Monat.


So sind die Biografien der fünf Menschen von Reiswerder traurig und bitter. Aber nicht nur. Christiane Carstens erzählt auch von den Helfern, die ihnen das Leben im Untergrund ermöglichten. Stille Helden sind es, die ihr Leben riskierten. 

Christiane Carstens ist tief eingetaucht in die Geschichte von Verfolgung, Ermordung und mangelnder Gerechtigkeit. Das hat sie mitgenommen. Carstens musste immer wieder Pausen einlegen. Die Arbeit an dem Buch hat ihre Sicht auf die Welt verändert.

Sie sagt: "Wenn solch ein System wieder an die Macht kommt, ist man ausgeliefert. Man muss vorher etwas tun und Unmenschlichkeit benennen. Es darf nicht sein, dass alle schweigend zuschauen."

Auf Reiswerder gibt es eine besondere Stelle, wo Gedenken möglich ist. Fünf Stühle sind unmittelbar am Wasser aufgestellt, versehen mit den Namen: Gerda Lesser, Erna Fleck, Gerhard Fleck, Lotte Basch und Hermann Dietz. Die Stühle sehen aus, als könne man sich niederlassen, unter den Bäumen ausruhen und auf das Wasser blicken. Aber die Sitzflächen sind entfernt. Das Erinnern stößt einen auf die Leerstellen. Hier waren Menschen, denen man ihren Platz im Leben brutal genommen hat. 

Wer ihrer gedenkt, verweilt nicht in der Vergangenheit. Dieses "Denk Mal am Ort" hat die Kraft, Menschen zu verändern. Es regt zum Nachdenken an, weckt Mitgefühl und ja, vielleicht auch Tatkraft. Denn schweigendes Wegschauen oder Hetze bedrohen eine Gemeinschaft, heute wie damals. Wer hilft und eingreift, wenn Menschen in ihrer Würde verletzt werden, trägt dem Gedenken Rechnung. Wie gut, wenn Menschen die Erinnerung an die Verfolgten bewahren. So ist es möglich, sich von der Vergangenheit zu lösen, mit ihr in der Gegenwart leben zu lernen. Ja, mehr noch: Unseren Kindern und Kindeskindern eine menschenfreundliche Zukunft zu bereiten.

Dafür brauchen Menschen Kraft. Die Bibel erinnert an eine Quelle dieser Kraft und an ein Versprechen. Dieses Versprechen ist eigentlich ein Segen: "Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung." (Jeremia 29,11) 

 

Literatur der Sendung:

1. Christiane Carstens, Untergetaucht in Reiswerder, Metropol-Verlag 2019
2. Interview mit Christiane Carstens am 8. Juni 2025