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Die Sendung zum Nachlesen:
"Selbstkritik ist die größte Freiheit, die wir haben." schreibt die Unternehmensberaterin Gitta Peyn. Das finde ich spannend. Denn sich selbst zu kritisieren, führt ja eher in die inneren Zwänge, in die Unfreiheit. Trotzdem. Selbstkritik ist die größte Freiheit, die wir haben. Und in den Kirchen gibt’s dafür sogar ein Möbelstück: Bei den Katholiken gibt’s den Beichtstuhl, bei den Protestanten die Kirchenbank. Da sitzen jeden Sonntag Menschen, die kritisch über sich nachdenken. Und die in der Feier des Gottesdienstes sich dazu bekennen, was sie nicht so gut hinbekommen haben und was sie hätten besser machen können.
Selbstkritik heißt im Gottesdienst "Sündenbekenntnis". Und für mich ist es eine große Freiheit. Denn ich bin so frei, zu meinen Fehlern und Schwächen zu stehen. Ich kann das tun, weil ich geschützt bin in diesem Raum und weil ich da nicht die Ausnahme bin, sondern wie alle anderen, die daran glauben, dass sie gerade so Gottes geliebte Menschenkinder sind. Weil sie glauben, dass dieser Gott sie nicht klein haben oder machen will. Sondern aufrecht und frei. Frei von der Last begangener Fehler. Frei davon, sie immer wiederholen zu müssen. Weil Gott seine Menschenkinder liebevoll in die Arme nimmt und sie sanft zurückschubst ins Leben mit den Worten: Probier‘s nochmal!
Ich sage das, weil ich mich immer wieder eher als Opfer sehe. Opfer von denen, die mir übel mitgespielt haben. Ich bin entsetzt und empört, dass der russische Präsident die ganze westliche Welt getäuscht hat. Dass er lügt und behauptet, er würde kein Volk angreifen.
Viele Politiker und Unternehmer fühlen sich derzeit betrogen. Das ist auch so. Und doch ist es nur die eine Seite der Medaille. Ich erinnere mich noch gut, wie ich von einem Freund betrogen und getäuscht worden bin. Das war so. Als ich einer Freundin das geklagt habe, hat sie mich nicht bedauert. Sie hat vielmehr zurückgefragt. Ob mir vorher denn nichts aufgefallen sei. Ja schon, habe ich gesagt, aber ich habe das nicht ernst genommen."- "Und warum?" Weil mir seine Aufmerksamkeit so gutgetan hat. Weil ich die nicht verlieren wollte. Deshalb habe ich nicht hingeschaut.
Das zu erkennen, war nicht angenehm. Aber es hat mich aus der Rolle des Opfers rausgeholt. Hat mich wieder auf meine eigenen Beine gestellt.
Als Opfer bin ich darauf angewiesen, dass Andere etwas tun, damit es mir besser geht. Selbstkritisch erkenne ich, was ich tun muss und was ich tun kann, damit es mir besser geht.
Ich kann lernen zu verstehen, was mich in einer unguten Beziehung festhält. Und ich kann dafür sorgen, dass sich die ungute Situation nicht wiederholt.
Selbstkritisch können wir fragen: Was ist unser Beitrag gewesen, dass der Ukrainekrieg gekommen ist? Welches Bedürfnis hat im Weg gestanden, der Realität ins Auge zu schauen?
War es das Bedürfnis vor allem nach Wohlstand durch möglichst billige Rohstoffe? Koste es, was es wolle? Oder war es das Bedürfnis nach einem dauerhaften Frieden in Europa, das uns blind gemacht haben für die Kriegsgelüste Russlands?
Darüber wünschte ich mir eine lebendige Debatte. Über unser Bedürfnis nach Wohlstand und welchen Preis wir dafür bezahlen wollen. Über die Tugend des Verzichts und was sie uns bringen könnte. Und darüber, welche Lehren wir aus den Fehlern der Russlandpolitik ziehen wollen.
Und dann die wichtige Frage in der Politik wie im Privatleben: Wieviel Abstand brauchen wir gegenüber Menschen und Staaten, die uns in eine Spirale von Wut und Zerstörung hineinziehen?
Selbstkritik ist die größte Freiheit, die wir haben. Und an jedem Sonntagmorgen üben sich Christenmenschen in dieser Freiheit. Wir können die Rolle des Opfers verlassen, schmerzlich, aber doch Verantwortung übernehmen für das, was wir tun und für das, was wir unterlassen. Wir können es einander klagen. Vor Gott. Weil Gott will, dass wir frei und aufrecht durchs Leben gehen.
Es gilt das gesprochene Wort.