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Erinnern, wiederholen, durcharbeiten
Buß- und Bettag
20.11.2024 06:35

Das Holocaust-Mahnmal in Berlin steht im Herzen der Stadt. Da gehört es hin. Reue beginnt im Herzen.  

 
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Erinnern, wiederholen, durcharbeiten. Die Methode von Sigmund Freud, dem Erfinder der Psy-choanalyse. Wenn man Fehler nicht wiederholen will, wenn seelische Verletzungen, die man erlitten und anderen zugefügt hat, heilen sollen. Dann muss man sich immer wieder erinnern, sich damit auseinandersetzen und das Vergangene durcharbeiten. Und das dauert. Aber es kann befreien.
Darum geht es heute, am Buß- und Bettag. Um die Fehler, die wir als Gesellschaft begangen haben, um die Verwundungen, die wir erlitten und anderen zugefügt haben. Damit sich ausei-nanderzusetzen, Verantwortung zu übernehmen und Gott um Vergebung zu bitten. 
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin erinnert wie kaum ein anderes an die Verbrechen, die das deutsche Volk Jüdinnen und Juden und vielen Minderheiten angetan hat. Aber das ist lange her, sagen manche. Und ist es nicht auch mal genug mit Buße und Reue?, fragen sie, denen das Ge-denken ein Dorn im Auge ist. 
Einmal war ich dort, am Holocaust-Mahnmal in Berlin. Saß auf einer der schwarzen Stelen im Herzen der Stadt zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Ich blinzelte in die Sonne und ließ die Leute an mir vorüberziehen. Eine Gruppe kam näher. Der Guide erklärte in Englisch, dass das hier 2711 Stelen sind. Von kniehoch bis über zwei Meter. Wenn man hineinläuft, ist man irgendwann nur von schwarzen Wänden umgeben. Und fühlt sich orientierungslos. 
Der Guide sagte: "Das Mahnmal erinnert an die fast sechs Millionen Juden, die von deutschen Nazis ermordet worden sind." Die Leute in der Besuchergruppe werden still. "Seit Mai 2005 steht es hier. Nicht irgendwo am Stadtrand." Und dann fragt er: "Why here, in the heart of Ber-lin – warum im Herzen der Hauptstadt?" 
Die Antwort ist: Erinnern. Wiederholen. Durcharbeiten - das findet im Herzen statt. In der christlichen Lehre fängt Buße mit der "contritio cordis", mit der Zerknirschung des Herzens an. Nichts kann rückgängig- oder wiedergutgemacht werden. Aber das Mahnmal gibt Anlass, um aus den Gefühlen und Gedanken herauszuwachsen, die zu diesen teuflischen Taten geführt haben. Nicht verdrängen, verleugnen und vergessen, sondern: Erinnern, in Gedanken die Geschichte wiederholen, durcharbeiten. Und vor Gott bringen. 
Der Buß- und Bettag gibt dazu Raum und Zeit. Für den Schmerz, die Verstrickung, in die man geraten ist, und die ungesühnte Schuld. In einer Therapie gibt es ein offenes Ohr, in das man hineinreden kann, ohne verurteilt zu werden. Ein Gegenüber, das einlädt, zu verstehen und frei zu werden vom Zwang zur Wiederholung. In den Gottesdiensten heute kann man Gott ins Ohr flüstern, was nicht gut läuft. Man kann den Schmerz des Bedauerns spüren, ihn miteinander aushalten. Und Gott um Vergebung bitten.
Die Sprache der Liturgie hat Worte, die man sich leihen kann. "Schaffe in mir Gott, ein neues Herz, und gib mir einen neuen, gewissen Geist", lautet eines der Gebete. Und dann hören. Gott will nicht, dass jemand an seiner Schuld zerbricht. Jeder Mensch soll und darf wieder neu an-fangen. 
Für viele ist Reue und Buße eine Zumutung. Sie wollen lieber einen Schlussstrich ziehen, die Vergangenheit ausblenden. Und gleichzeitig machen sie sich selber groß, indem sie andere klein machen und als minder-würdig betrachten. Zuerst mein persönliches Wohlergehen, zuerst Deutschland, America first. Das entlastet zwar für den Moment. Aber es führt zurück in den Teufelskreis. 
Heute am Buß- und Bettag erinnern wir an die Größe der Demut. Und bitten Gott um die Kraft, demütig zu sein und umkehren zu können. 
Der Theologe Kurt Marti hat das so formuliert: 
nur Umkehr
kann hoffnung wecken
nur der mut  
anders zu leben
macht uns wieder lebendig
in der tiefe, ach
bitten wir
um mut zur umkehr (1)

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Anmerkungen:
(1)    Im November 1989 hat Marti, zusammen mit Dorothee Sölle und Adolf Muschg, Texte für ein Oratorium für den Planeten des Lebens geschrieben: Sunt lacrimae rerum. Kompo-niert hat es Daniel Glaus. Das Werk wurde im November 1989 im Berner Münster aufge-führt. Die Worte finden sich am Schluss des Oratoriums.
 

 

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