In Fernost kommt unserer Autorin die eigene Kultur ganz nah.
Sendung zum Nachlesen
In diesem Jahr waren mein Mann und ich in China. Zwei Monate wollten wir in chinesischen Krankenhäusern arbeiten und die unterstützen, die sich um das seelische Wohl der Patientinnen kümmern. Zwei Monate über Ostern und Pfingsten würden wir eintauchen in eine Welt, in der uns alles fremd war: Kultur und Sprache, Sitten und Gebräuche und das Lebensgefühl der Menschen. Wir waren gespannt auf Karwoche und Ostern ohne Gottesdienst und Requiem, ohne Kantaten und Osterhasen, ohne bunte Eier und Familientreffen.
Mein erster Kulturschock kam bald. Karfreitag, 15 Uhr. In der Todesstunde Jesu stand ich auf der größten Einkaufsmeile von Shanghai, der Nanjing Road. Hier war Rush-hour, Shopping-time. Leute mit vollen Einkaufstaschen hasteten durch die neonbeleuchteten Geschäfte, die Luxuslabel von Mode und Hightech, Delikatessenläden und Spielzeuggeschäfte. Die Leute unterhielten sich so laut, ja schrien sich an, als seien sie schwerhörig. In China kein Zeichen von Streit, sondern ganz normale Unterhaltung.
Ich sehnte mich nach der Stille deutscher Innenstädte am Karfreitag. Nach der Innerlichkeit der Matthäuspassion von Bach. Innehalten und an das Leiden und Sterben Jesu denken. Und damit an alles Leiden und Sterben in der Welt. In zerbombten Städten, in Flüchtlingslagern, in Krankenhäusern und Altersheimen. Mitgefühl haben und solidarisch sein mit denen, die es nicht so guthaben. Ihre Würde achten in der Feier der Gottesdienste landauf landab.
In China gibt es diese Tradition nicht. Kinder lernen, sich zu disziplinieren und über Probleme hinwegzulächeln. Mindestens außerhalb der Familie. In China lächeln die, denen es nicht gut geht. Sogar die Depression lächelt. Mit meinen Karfreitagsgedanken war ich da sehr allein.
Und zugleich war ich so froh über diesen kostbaren Schatz in mir und meiner christlichen Kultur. Und ich dachte: Wie reich ist eine Gemeinschaft, wenn sie nicht den Wohlstand an die erste Stelle setzt, sondern die Solidarität mit denen, die leiden müssen. Wie reich ist eine Gemeinschaft, wenn sie an die Macht der Liebe glaubt, die sogar stärker ist als der Tod.
Ein paar Wochen später war Pfingstsonntag. Statt einem fröhlichen, bunten Pfingstgottesdienst mit Musik, guter Predigt und Treffen mit Freunden hatten wir einen Arbeitstag. Wir fuhren in ein psychiatrisches Krankenhaus in Shanghai, um mit Therapeutinnen und Ärzten dort über ihre Arbeit zu reden.
Nach einem kurzen thematischen Impuls baten wir die Teilnehmenden, von ihrer Arbeit mit Patienten zu erzählen. Von den Gesprächen, die nicht so gut liefen. Von gescheiterten Therapien.
Über persönliche Probleme zu reden, ist für Menschen in China eher schwierig. Gesichtsverlust ist eine bedrohliche Vorstellung. Nach einiger Zeit des Austausches entstand ein Raum des Vertrauens. Die Therapeutinnen teilten einander mit, wo sie glaubten, mit ihrer Arbeit gescheitert zu sein. Sie zeigten einander ihre Gefühle von Ohnmacht und Trauer. Und als die Tränen flossen, gab es viel Mitgefühl und Trost. Es fielen Sätze wie "Das kenne ich" oder "Damit tue ich mich auch schwer". Und man nahm einander in den Arm.
Die Angst vor Gesichtsverlust verwandelte sich in eine Atmosphäre von gegenseitiger Wertschätzung und Solidarität. Und es ging fröhlich zu.
So muss das gewesen sein an Pfingsten, dachte ich. Da sind auch Leute aus verschiedenen Welten zusammengekommen. Sie konnten nicht miteinander reden, und auf einmal ging das doch. Sie haben sich sogar prima verstanden. Ein guter Geist erfüllte den Raum. Sie konnten einander begegnen von Mensch zu Mensch.
Die Bibel nennt es den "Heiligen Geist", Gottes guter Geist. Und der, so heißt es in der Bibel, der weht, wo er will. Auch bei denen, die anders glauben und eine andere Weltanschauung haben.
Es gilt das gesprochene Wort.
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