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„Zu Tisch, Deutschland!“ steht auf dem Plakat. „Ein Toast auf die offene Gesellschaft!“
Es ist eine Einladung für nächsten Samstag, den 15. Juni. Weiter heißt es: Tische und Stühle raus und schön eindecken! Freundinnen, Freunde, Nachbarn und Fremde einladen, essen, debattieren und gemeinsam die Demokratie feiern – an hunderten Tafeln gleichzeitig, bis spät in die Nacht.
Dahinter steht die Initiative „Die Offene Gesellschaft“ mit Harald Welzer und der Diakonie Deutschland, in den letzten Jahren hat sie weit über 1.000 Veranstaltungen im ganzen Land organisiert. Die Initiative versteht sich als Teil einer verantwortungsbereiten Zivilgesellschaft. Und der „Tag der offenen Gesellschaft“ soll eine gute neue Tradition werden. Die Anmeldung ist freigeschaltet; jeder kann mitmachen. Egal ob als Privatperson, Firma, Verein oder Kirchengemeinde.
Tischgemeinschaften haben Konjunktur. Zum Beispiel die Kaffeetafel neulich beim Bundespräsidenten. Dabei muss es gar nicht immer so groß sein. In vielen Kirchengemeinden treffen sich Ältere einmal die Woche; da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt bestimmt eine andere nach. Anderswo öffnet die Cafeteria im Altenzentrum für die Kinder der nahegelegenen Tageseinrichtung. In Neukölln kochen Flüchtlinge für Obdachlose. In den interkulturellen Gärten bei uns in Garbsen werden Gerichte aus fremden Heimaten serviert. Und in der Schweiz gehören 450 Gruppen zum Tavolata-Netzwerk. „Ich weiß nicht, was schöner ist“, sagt Erna Plüss vom Netzwerk, „gemeinsam zu planen, zu kochen, einzukaufen und Gäste zu bewirten oder sich als Gast an einen einladenden Tisch zu setzen und das Essen zu genießen.“
Tischgemeinschaft, das ist Geben und Nehmen, Austausch und Zugehörigkeit. Nur selbstverständlich, das ist sie nicht, oder nicht mehr. Zum Beispiel hat die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel gibt an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen. Im Vergleich der letzten Jahre erhalten die über 70-jährigen immer seltener praktische Hilfe. Die familiären Netze dünnen aus; das Leben verändert sich rasant. Und auch die Nachbarschaften verändern sich – angestammte Mieter müssen ausziehen, andere ziehen in die dann schick sanierten Viertel. Ladenzeilen verschwinden und auf den Straßen hört man andere Sprachen. Da ist gute Nachbarschaft Gold wert.
Vor drei Wochen war der Europäische Tag der Nachbarn. Da stellten bei uns in der Nähe 20 Leute ein Straßenfest auf die Beine – um das gute Zusammenleben zu feiern. 20 Leute zwischen 1 und 98. Eine Großfamilie, zwei alleinstehende Rentnerinnen, zwei ältere Paare und ein Witwer, einige mit russischem Akzent und einige aus Jordanien – und dann das Ehepaar Class. Als Günter nach einer Herz-OP Hilfe brauchte, da waren sie da. Ganz ungefragt. Für Fahrten zum Arzt oder auch um Getränkekisten aus dem Supermarkt mitzubringen. Das galt es jetzt zu feiern. Die Männer bauten Zelt und Biertische auf, eine Nachbarin machte Zaziki, eine andere Nudelsalat. Solche Feste entstehen neuerdings auch über das Internet. Man kann sich anmelden bei www.nebenan.de und die eigenen Ideen einbringen. Oder auch nachfragen, wer zufällig zum Supermarkt fährt oder einen Bohrer verleihen kann.
Die Unterstützung in der Nachbarschaft wurde im letzten Freiwilligensurvey der Bundesregierung abgefragt. Dabei zeigte sich: Immerhin 25 Prozent engagieren sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es sind, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. Und noch etwas wurde klar. Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Es tut gut, zu wissen, dass man nicht allein ist.
Das ist auch der Grund, weshalb das gemeinsame Wohnen wieder so viel Bedeutung bekommt – in Genossenschaften, Seniorenwohngemeinschaften und Mehrgenerationenhäusern, aber auch in Stadtteilzentren entwickelt sich eine neue Gestalt des Sozialen: die Caring Communities. Manchmal ganz klein und fast privat: Wenn junge Studierende mietfrei bei Älteren wohnen und im Gegenzug einkaufen oder den Garten pflegen. Und manchmal in organisierten Nachbarschaftsnetzen von Sozialstationen, Kommunen und Gemeinden: Mit Telefonketten, Begleitung bei Arztbesuchen und Einkäufen oder in der Demenzbegleitung.
Es gibt unglaublich viele spannende Projekte. Die Leihomas und Lesepaten. Die Pflegebegleiter, die in Abstimmung mit einer Sozialstation für nachbarschaftliche Dienste sorgen, die Stadtteilmütter und Ausbildungsmentoren. Oder die Jobpaten, die schwer vermittelbare Jugendliche durch ein Praktikum bis in ein festes Arbeitsverhältnis begleiten. Das Herz der neuen, gemeinwohlorientierten Bewegung, schlägt bei den „jungen Alten“. Sie verfügen stärker als Jüngere über ihre eigene Zeit, sie bringen vielfältige Kompetenzen aus Beruf und Familie ein und sie sind meist Kennerinnen und Kenner ihres Lebensumfelds am Wohnort.
„Mut zu mehr WIR“ steht auf dem Flyer. Drei Kirchengemeinden in Hannover laden zu einem Werkstattgespräch ein. „Welches Miteinander wünschen wir uns für das Zusammenleben in unserem Stadtteil?“ fragten sie. „Welche Werte und Grundlagen sind uns dabei wichtig? Über welche Fragen müssen wir uns neu verständigen?“ Grundlage für diesen Austausch sind die unterschiedlichen Erfahrungen der Gemeinden in der Flüchtlings- und Gemeinwesenarbeit. Es geht also auch um die Frage, welchen Beitrag Kirche und Religionsgemeinschaften in einem multireligiösen und kulturell vielfältigen Stadtteil leisten können, um das „WIR“ zu stärken. Die drei Gemeinden setzen sich seit 2015 für die Integration der Geflüchteten ein. Sie vermittelten zuerst Praktika, inzwischen auch Ausbildungs- und Arbeitsplätze und haben sogar den Integrationspreis der Stadt Hannover bekommen.
„Wenn Kirchengemeinden das WIR auch wirklich als WIR sehen – wenn sie ihr Dorf oder ihren Stadtteil meinen – dann ist ein erster Schritt getan“ sagt Peter Meißner von der Initiative Gemeinwesendiakonie. „Wenn Gemeinden andere Akteure einladen und mit ihnen in den Austausch gehen, wenn sie fragen, was braucht dieser Ort und wie sind unsere Wahrnehmungen, dann kommt etwas in Bewegung. Wenn Kirchengemeinden sich auf die Haltung „Nicht für sondern mit den Menschen“ einlassen, dann zeigen sie, dass sie wirklich an den Lebenslagen vor Ort interessiert sind“.
So wie in Filsum in Ostfriesland. Da betreibt die Gemeinde seit kurzem eine Fahrradpumpstation mit einem Fahrradflickzeugautomaten. Hintergrund ist die Tatsache, dass es in Filsum überhaupt keine Orte der Begegnung mehr gibt. Aber Filsum liegt an der Fehnroute, eine große Zahl von Fahrradtouristen fährt durch den Ort. Die Pumpstation, verbunden mit einer Klönsnackbank, ist ein erster Anlaufpunkt für Einheimische und Touristen, um ins Gespräch zu kommen.
„Nicht für, sondern mit den Menschen“ – das ist eine große Herausforderung. Das bedeutet, Menschen zu befragen und sie zu beteiligen. Und das hat auch Auswirkungen auf das Verständnis und das Leitbild einer Kirchengemeinde. Manche fürchten, dass sich das Profil der Gemeinde verwässert, dass nicht mehr erkennbar ist, für was die Gemeinde eigentlich steht. Zugleich sind immer mehr Menschen auf der Suche nach Spiritualität – „aber vielleicht ist unsere Spiritualität nicht mehr die der Menschen?“, fragt Peter Meißner.
Pfingsten ist der Geburtstag der Kirche, heißt es. Ich sehe eine kleine Backsteinkirche vor mir – vom Kirchturm hängt ein großes Herz und durch die offenen Türen wird ein Blumenstrauß gereicht. Aber das ist nur ein Logo für den Gemeindebrief. So niedlich fing es gar nicht an. Ganz im Gegenteil: Alles begann mit einem Brausen vom Himmel, mit einem Sturm, der die Freunde Jesu aus dem Haus trieb, in das sie sich nach Jesu Tod aus Angst verkrochen hatten. Es trieb sie raus auf die Straßen und Plätze der Stadt, wo sie mit wildfremden Menschen ins Gespräch kamen. Über Jesus, über ihre Ängste und ihre Hoffnung und über das neue Jerusalem. Die Bibel zählt die Volksgruppen auf, die damals in der Stadt waren. Fremde Namen sind das, an denen man sich leicht verschluckt: Parther und Meder und Elamiter, Menschen aus Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, aus Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene… – und viele mehr.
Und dann beschreibt die Bibel, wie viele sich begeistern ließen und Feuer fingen und wie die Kirche wuchs, weil sie alles teilten, füreinander sorgten. Und weil sie regelmäßig zusammen aßen. Die erste christliche Gemeinde war eine Caring Community. Streit gab es auch damals, darüber, wofür die Gemeinde wirklich stand... Doch der Geburtstag der Kirche fand auf den Straßen und Plätzen und in den Häusern Jerusalems statt – nicht hinter Mauern im Tempel. Sie saßen alle an einem Tisch – Männer und Frauen, Juden und Griechen – auch die Witwen und Waisen. Eine bunte Schar, wie eine große Familie.
„Wenn wir wollen, dass Kirche in Gang kommt, dann müssen wir selbst gehen“, heißt es beim Kirchenentwicklungsprojekt „Kirche geht“ in der Schweiz. Rausgehen. Neues entdecken, den Blick öffnen für die Menschen und ihre Wohnräume vor Ort. Und das am besten gemeinsam. Im Austausch über das, was wir wahrnehmen. Pfarrer Martin Piller aus St. Maria Lourdes in Zürich nimmt seine Besucher mit – zu einem Erkundungsgang durch das Viertel. Ganz unterschiedliche Wohngebiete. Einzelne Häuser mit Gärtchen. Reihenhäuser. Wohnblocks verschiedenster Art – hoch modern oder schon etwas in die Jahre gekommen. Wie könnte eine Form von Kirche passen, für all die unterschiedlichen Menschen, die dort leben?
Immer wieder machen sich Menschen aus der Pfarrei auf den Weg, treffen andere im Viertel und schauen gemeinsam, wie Gemeinschaft entstehen kann, was sie gemeinsam für ein gutes Leben vor Ort tun können. „Es geht nicht um volle Kirchenbänke. Es geht um das volle Leben. Und das findet sich eben auch vor der Kirchentür“, sagen sie. Zusammenarbeit ist gefragt. Für Asylsuchende im Quartier. Für Menschen, die Gemeinschaft suchen. Für Leute, die etwas bewegen wollen, die Unterstützung brauchen, vielleicht auch nur einen Anstoß, sich in ihrem Lebensumfeld heimisch zu fühlen.
In Zürich fängt man klein an. Dort entstehen kleine christliche Gemeinschaften, 12- 20 Leute pro Nachbarschaft, von 1 – 98. Sie treffen sich wie die Tavolata-Kreise in den Häusern, manchmal in den Gärten – zum Bibelteilen und zum Austausch über ihren Alltag und ihre Sorgen. Kleine ‚Sorgende Gemeinschaften‘, die sich jedes Mal fragen: Wie wird dieser Bibeltext mein Handeln in den nächsten Wochen bestimmen? Welche ganz praktische Anregung nehme ich für mich mit? Aus diesem Austausch erwächst manchmal sehr viel – die kleinen Alltagsdienste oder sogar eine Sterbebegleitung. So ist es bei Tavolata auch. Aus den Tischgemeinschaften entsteht ganz oft mehr: gemeinsame Wanderungen, Spielenachmittage, sogar Reisen.
Das neue Jerusalem, die neue Stadt, von der die Bibel schreibt, ist ein Versprechen. Eine Herausforderung und eine Einladung, sich jetzt schon einzulassen auf das Leben in der himmlischen Welt. Barmherzigkeit leben, der Gerechtigkeit zum Durchbruch verhelfen – und so dafür sorgen, dass unsere irdischen Städte etwas vom Glanz der himmlischen spiegeln. Auch wenn wir noch auf den neuen Himmel und die neue Erde warten – lasst uns anfangen, die neue Stadt zu bauen, die Stadt von Frieden und Gerechtigkeit. (1)
Ein Toast auf die offene Gesellschaft. Ein Toast auf die neue Stadt!
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
- Danse Gitane, Orgue de Barbarie
- Akkordeon Heath Ball, Dutch Barrel Organs
Literaturangaben:
- Anthony Pilla, katholischer Bischof von Cleveland, 1993.