Vor 34 Jahren am Tag der Deutschen Einheit herrschte Begeisterung, heute eher Enttäuschung und Entfremdung. Wie bringt man diese Stimmungslagen zusammen?
Sendung nachlesen:
Treffpunkt Friedrich der Große. Ich erinnere mich noch heute an die Verabredung damals 1990 am Tag der Deutschen Einheit in Berlin. Als Kinder der ehemalig geteilten Stadt wollten meine Freunde und ich eintauchen in den Jubel. Wir wollten die Menge und das große Feuerwerk am Brandenburger Tor miterleben. Dazu brauchte es einen Treffpunkt: unter dem Reiterdenkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden in Berlin-Mitte.
34 Jahre später stehe ich wieder unter einem Denkmal. Es befindet sich in Weißwasser, einer kleinen Stadt in der schlesischen Oberlausitz bei Görlitz, ganz nah an Polen. Das Denkmal ist ein Brunnen: Oben sind vier Männer in Schürzen dargestellt. Jeder hält ein bodenlanges Rohr in Händen. Sie blasen hinein. Am Ende des Rohres ist eine Kugel zu sehen: Es sind Glasbläser. Glaskunst und Glasindustrie prägten die Stadt im Osten, die zu DDR-Zeiten rasant wuchs und im Eiltempo durch Plattenbauten erweitert wurde.
Heute kennzeichnen den Ort die Probleme vieler ländlicher Regionen: Die Stadt hat seit dem Mauerfall ein Drittel ihrer Einwohner verloren. Junge Menschen ziehen weg. Die Alten fühlen sich alleingelassen. Es fehlen Perspektiven und eine verlässliche Infrastruktur. Die Ergebnisse der Landtagswahl spiegeln Sorgen und Verunsicherung, aber auch Unzufriedenheit und Enttäuschung wider.
Weißwasser besitzt auch eine Kirche. Sie knüpft an die Tradition dieser Stadt an: Im hellen Innenraum hängt ein gläsernes Kreuz über dem Altar, der ebenfalls aus Glas ist. Mitglieder aus dem Gemeindekirchenrat haben ihn gefertigt. Ein Stück Lebensgeschichte der Menschen vor Ort spiegelt sich darin wider, aber auch Stolz und Identität der Stadtbewohner - beides zerbrechlich wie so vieles gerade.
Ich stehe bei meinem Besuch allein und ein wenig verloren am Glasbläserbrunnen und versuche, die unterschiedlichen Stimmungen zusammenzukriegen: den Jubel und die Begeisterung über die Deutsche Einheit vor 34 Jahren und die spürbare Enttäuschung und Entfremdung, die heute so oft das Verhältnis von Ost und West zu bestimmen scheinen.
Ich schaue nach oben zu den vier Glasbläserfiguren auf dem Brunnen und denke: Die vier da oben machen es uns vor: Wir müssen vorsichtig sein! Unsere Einheit ist zart und zerbrechlich. Und gleichzeitig etwas, auf das wir stolz sein können. Ich jedenfalls möchte sie nicht missen.
Einheit braucht Treffpunkte, an denen sich Ost und West, Stadt und Land, Alt und Jung und was für Gegensätze uns sonst noch prägen, begegnen können. Nicht nur prominente und pompöse wie damals das Reiterstandbild Friedrichs des Großen in Berlin, sondern auch die eher Unbekannten wie dieser schöne Brunnen in Weißwasser. Mehr Achtung und Behutsamkeit im Umgang miteinander wünsche ich mir heute zum Tag der Deutschen Einheit – und winke dabei besonders herzlich nach Weißwasser
Es gilt das gesprochene Wort.