Unser Autor nimmt die biblische Jahreslosung beim Wort und fängt bei sich zu Hause damit an: Er prüft, ob er all die Dinge braucht. Und landet darüber bei ganz Anderem.
Nach der Ausstrahlung können Sie an dieser Stelle den Sendetext nachlesen.
Sendetext nachlesen.
Und … wie geht´s?
Och, als weiter!
Sagt man so in der Pfalz.
Denkt man aber allerorten gern
- gerade jetzt, um die Jahreswende herum.
Als weiter!
Es soll so bleiben, wie´s ist!
Das ist damit ja wohl gemeint.
Als ob das möglich wäre!
Nichts bleibt, wie es ist,
nicht einmal wir selbst.
Wir bleiben nicht.
Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh …
Genau darum geht es insgeheim an der Jahreswende.
"Dinner for One" ist das beste Beispiel dafür.
Seit Jahrzehnten feiern Miss Sophie und Butler James
den 90. Geburtstag der alten Sophie in Schwarz-Weiß.
Ein deutsches Ritual.
So wie jedes Jahr wurde auch diesmal Silvester gefeiert.
Bloß: Die Komik von "Dinner for One" besteht ja darin,
dass etwas aufgeführt wird, was vorbei ist.
Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Winterbottom und Mr. Pommeroy
sind mausetot, längst.
"Doch sie treten, durch den Butler verkörpert, immer wieder neu auf",
schreibt der evangelische Theologe Kristian Fechtner.
Und: "Die Komik des ‚the same procedure as every year‘
hat einen melancholischen Unterton.
Und Trotz schwingt mit, Abschied wird verweigert."
Als weiter!
Ja, das machen Miss Sophie und ihr Butler.
Aber es ist zum Lachen!
Es geht ja schon lange nicht mehr weiter so wie einst.
Auch 2025 nicht.
Glockengeläut
Als weiter?
Ja, sicherlich, manches wird bleiben - auch in diesem noch frischen Jahr 2025.
Und es wird Wandel geben.
Und Veränderungen, schleichende und massive.
Den meisten wird Neues begegnen, Fremdes … und Fremde.
"Als weiter" ist kein frommer Wunsch, eher ein naiver.
Ein frommer Wunsch wäre:
"Der du die Zeit in Händen hast, Herr,
nimm auch dieses Jahres Last und wandle sie in Segen."
Last möge sich in Segen verwandeln, bitte!
Die biblische Jahreslosung 2025 kann bei dieser Verwandlung helfen:
"Prüft alles und behaltet das Gute!"
Schreibt der Apostel Paulus.
In einem Brief an die christliche Gemeinde in Thessalonich,
dem heutigen Saloniki in Griechenland.
Ich höre den Satz zunächst einmal so, wie er daherkommt,
sechs Worte aus ihrem Zusammenhang gerissen,
und beziehe die Jahreslosung auf mich,
auf meinen Alltag, auf die vielen Dinge, die mich umgeben.
In meinem Falle sind das Bücher, weit über 10.000,
habe ich - den Regalen entlang - mal überflogen.
Prüfe alle!
Ich fing mit zwei bunten Paperback-Buchreihen an,
beide seit 20 Jahren unbenutzt.
Der Antiquar, bei dem ich immer mal wieder was gekauft habe,
sagt am Telefon: unverkäuflich.
Eine Internetplattform bietet 2 Cent pro Buch,
andere kaufen diese Reihen erst gar nicht an.
Nun behaupten alle Ratgeber, die das Ausmisten propagieren, es tue gut.
Das Ausmisten mache uns frei, mache uns wesentlicher.
Gerne wird auch der Filmemacher Pier Paolo Pasolini zitiert, der gesagt hat:
"Überflüssige Dinge machen das Leben überflüssig."
"Prüfe alles!" Das heißt auch: Was alles muss ich nicht haben?
Was muss gar nicht herumstehen?
Weniger Dinge, in meinem Falle Bücher, machen das Leben leichter.
Uwe Timm lässt seinen Helden Rot, einen freien Bestattungsredner,
im gleichnamigen Roman in weißen leeren Räumen wohnen.
"Keine Bücher, mit Ausnahme des Buchs der Bücher.
Man kann von der Konkurrenz nur lernen",
sagt Rot. Und:
"Ich kaufe immer nur ein Buch, lese es, verschenke es
oder lasse es auf dem Postamt liegen.
Mein Hausstand bleibt leicht transportabel."
Meiner nicht!
Aber die beiden Zeitschriftenreihen brauche ich wirklich nicht mehr,
sie sind längst überflüssig.
Von ihnen kann ich mich einfacher trennen als von den Romanen.
Tags drauf habe ich dann die beiden bunten Paperback-Reihen
in Kisten verpackt und zum Papiermüll verfrachtet.
Und danach?
Fühlte ich mich nicht freier oder leichter.
Ich kam mir wie ein Verräter vor,
wie ein Verräter an diesen Büchern.
Und an ihren Autoren wie Hans-Magnus Enzensberger
oder Barbara Sichtermann, die ich gern gelesen habe.
Ein paar Tage später wurde es besser,
das Gefühl, mich irgendwie befreit zu haben, trat nur langsam ein.
In diesem einen Regal gibt es jetzt ein paar freie Regalmeter.
Und es wirkt, als sei die ganze Wohnung weniger zugestellt.
Ich bin dabei, weitere Regalmeter zu prüfen.
"Prüft alles und behaltet das Gute!"
Die Dinge, die einen umgeben, daraufhin prüfen,
ob sie nicht längst überflüssig sind und man sich von ihnen trennen kann
- ein guter Vorsatz am Beginn eines neuen Jahres, glaube ich.
Alles prüfen und das Gute behalten …
Im biblischen Original ist das ein Satz unter vielen, eher unbedeutend.
Er stammt aus dem ältesten schriftlichen Zeugnis des Christentums,
dem ersten Paulusbrief an die gerade gegründete Gemeinde
im griechischen Saloniki.
Der Vers ist eingebettet in eine lange Reihe von Ermahnungen:
- sich um jene zu kümmern, die voller Angst sind,
- oder: die Schwachen mitzutragen.
"Passt auf, dass niemand Böses mit Bösem an anderen vergilt,
sondern sucht immer das Gute untereinander und bei allen.
Löscht die Geistkraft nicht aus,
verachtet Prophezeiungen nicht,
doch prüft alles und behaltet das Gute.
Von jeder Gestalt des Bösen haltet euch fern.
Gott selbst ist der Frieden und möge euch heiligen."
Mit den Prophezeiungen aus der Geistkraft heraus
ist hier vor allem Zungenreden gemeint, Glossolalie.
Und das gab es im Christentum von Anfang an.
Und gibt es auch heute: spontan in unbekannter Sprache sprechen.
Mitten in der Predigt in einem ganz normalen evangelischen Gottesdienst
zitierte die Pfarrerin die ersten beiden Verse von Psalm 126:
"Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens sein."
Genau an dieser Stelle fing Mary an,
laut und immer lauter unverständliche Worte zu lallen,
sie brabbelte und brabbelte,
es hielt sie kaum auf ihrem Stuhl.
Mit ihrem ganzen Körper bewegte sie sich rhythmisch vor und zurück,
bis sie schließlich vom Stuhl fiel
und schwer atmend auf dem Boden liegen blieb.
Konfirmandinnen kicherten,
einige konnten sich kaum halten vor Lachen.
Manche Erwachsene waren peinlich berührt
und taten so, als sei nichts.
Andere verstanden überhaupt nicht, was los war,
und wollten den Notarzt rufen.
Sie dachten, die junge Frau sei irgendwie gestört.
Mary war eine Asylbewerberin, die aus einer Pfingstgemeinde stammte,
in dieser Kirchengemeinde jedoch ihre Heimat gefunden hatte.
Nun leben wir in Nordeuropa nicht nur klimatisch in einer gemäßigten Zone,
wir sind auch eher mild religiös.
In Pfingstkirchen ist Zungenreden durchaus üblich.
Für Außenstehende hört es sich wie eine Fremdsprache an.
Es ist aber keine Sprache, die der Verständigung dient,
sie richtet sich an Gott.
Viele, die in Zungen beten,
empfinden sich dabei durchströmt von göttlicher Kraft.
Diese religiöse Praxis lehnt der Apostel Paul nicht ab,
im Gegenteil:
"Prophetische Rede verachtet nicht.
Den Geist dämpft nicht."
Aber geprüft werden soll das Zungenreden,
kritisch betrachtet.
Religiöse Praxis muss geprüft,
muss auch kritisch betrachtet werden.
Sagt die älteste Schrift des Neuen Testaments.
Die Kriterien für die Prüfung sind eigentlich ganz einfach:
Hilft diese Prophezeiung oder diese Praxis
denen, die voller Angst sind, und den Schwachen?
Wird hier das Gute gesucht?
Dient´s dem Frieden?
Das sind gute Kriterien,
wenn ich die Jahreslosung für 2025 beherzige:
Prüft alles und behaltet das Gute!
Prüft alles und behaltet das Gute!
Gilt das auch für die Weisheit anderer Religionen?
Soll die auch geprüft
und das Gute, das man findet, am Ende gar behalten werden?
"Kann ich Gottes Bild in jemandem erkennen, der
nicht meinem Bild entspricht,
dessen Sprache, Glaube und Ideale sich von meinen unterscheiden?"
Fragte sich einmal der britische Großrabbiner Jonathan Sacks.
Und gab zur Antwort:
"Wenn ich das nicht kann,
dann habe ich Gott nach meinem Bild geschaffen,
anstatt ihm zu erlauben, mich nach seinem Bild umzugestalten."
Sacks plädiert dafür, das Andere zu prüfen,
wahrzunehmen - auch als Bereicherung.
"Können Juden, Muslime, Hindus, Sikhs, Orthodoxe,
Katholiken und Protestanten Raum machen füreinander
- im Nahen Osten, in Indien, Sri Lanka, in Tschetschenien, im Kosovo
und an den zig anderen Orten, wo unterschiedliche ethnische
und religiöse Gruppen nebeneinander leben?
Können wir einen Paradigmenwechsel vollziehen und erkennen,
dass uns der Unterschied,
dass uns das Andere nicht mindert, sondern weitet,
so wie uns die sechstausend Sprachen der Welt nicht mindern,
sondern weiten, mit ihren jeweils ganz eigenen Empfindlichkeiten,
Kunstformen und literarischen Ausdrucksmitteln?"
Dabei geht es nicht um ein Gutmenschentum von Leuten, die
nirgendwo hingehören, sondern um …
… "das zutiefst menschliche Verstehen zwischen Menschen, die
wissen, wie wichtig ihnen ihre Bindungen sind,
und die deshalb verstehen, wie wichtig einem anderen Menschen
seine anders gearteten Bindungen sind."
Einfach ist das nicht, was Rabbi Sacks hier anpeilt.
Die anderen sind ja tatsächlich anders.
Sie nerven, sie ticken anders als ich, kochen und denken anders,
mögen andere Musik.
Und ich rede jetzt von den andern in meiner eigenen Familie.
Ein Philosoph, der sich
ein Leben lang mit dem Anderssein der anderen beschäftigt hat,
spricht von der "rohen Wildheit der Andersheit".
Die Andersheit, die mir erst recht im Antlitz eines Fremden gegenübertritt,
beschreibt er gar als "Heimsuchung".
Er sagt: "Die Heimsuchung besteht darin,
[...] die Ichbezogenheit des Ich umzustürzen."
Die Ichbezogenheit des Ich umstürzen ...
Die Begegnung mit den anderen verändert mich.
Und die anderen bleiben unfassbar,
ich kann sie nicht wirklich einordnen,
nicht einmal unter die Kategorie, sie seien auch nur Menschen.
Das sind die anderen – zweifelsohne.
Allerdings andere als ich.
Mich auf das Anderssein des anderen einzulassen,
ohne ihn in das Bild zu integrieren, das ich mir von ihm mache,
das ist eine religiöse Bewegung.
- Der andere, so unfassbar anders,
- die andere, so verwirrend anders,
nach dem Bilde Gottes sind beide geschaffen.
Lasse ich mich auf das Anderssein des anderen ein,
verändert sich nicht allein mein Ich.
Es entsteht in mir eine Ahnung davon, dass auch Gott anders ist,
das A und das O, dass "alles", Anfang und Ende, anders ist,
als das Bild, das ich mir gemacht habe.
Das Fremde fasziniert - einerseits, sonst würden wir nicht reisen.
Ich bin mir ziemlich sicher,
nicht allein die Faszination des Fremden stellt eine Bereicherung dar.
Gerade auch die Verwirrung,
meinetwegen auch "die Heimsuchung", die Fremde darstellen,
führen uns über uns selbst hinaus,
weiten uns.
Prüft alles und behaltet das Gute!
Und so Gott will, verwandelt er die Last aus 2024
dieses Jahr in Segen.
Es gilt das gesprochene Wort.
Musik dieser Sendung:
1. Snow Falling Quietly (Markus Burger)
2. Es kommt ein Schiff geladen (Markus Burger)
3. Lobe den Herren (Markus Burger)
Literatur dieser Sendung:
1. Kristian Fechtner, Im Rhythmus des Kirchenjahres, Gütersloh 2007, 87f
2. Uwe Timm, Rot, Köln 2002, 13
3. Jonathan Sacks, The Dignity of Difference. How to avoid the Clash of Civilization, London 203, 402 (Übersetzung privat) https://rabbisacks.org/quotes/the-test-of-faith/
4. Emmanuel Lévinas, Die Spur des Anderen, München 1987, 223