Bilder: Frank-Michael Theuer
Talitha Kumi
Schule der Hoffnung in Beit Jala
18.05.2014 07:35

Talitha, kumi! – Mädchen, steh auf! Das ist eine Geschichte in der Bibel. Der Evangelist Markus erzählt sie. Jesus spricht diese Worte zur Tochter von Jairus, die Menschen halten sie für tot. Jesus hört nicht auf das Gerede. Er belehrt die Leute – das Kind ist nicht gestorben, es schläft nur. Jesus wird verlacht. Aber er geht zu dem Mädchen, greift es bei der Hand – Talitha, kumi! Das Mädchen steht auf, geht umher. Man soll ihr zu essen geben, sagt Jesus.

 

Irgendwo am See Genezareth spielt diese Geschichte. In Israel. Palästina? Schon die Bezeichnung ist heute politisch, manche weichen auf den geographischen Begriff der südlichen Levante aus. Talitha, kumi! Das liegt mir auf der Zunge, das möchte man sagen, wenn man hier im Land unterwegs ist. Eine Mauer mäandert durch das Land, durch die Westbank. Rund um Gaza. Zwischen Israel und Palästina, das kein Staat ist, sondern von Israel besetztes Gebiet. Terrorabwehr für die einen, die Israelis. Gefängnis für die anderen, die Palästinenser. Aufstehen, das ist hier nicht einfach. Eine Friedensverhandlung nach der anderen stockt, verstrickt sich in der immer gleichen, unterschiedlichen Sicht. Endet in Vorwürfen und neuem Druck. Erneuert nur die alten, tiefen Verletzungen. Einig scheint man sich nur in der Hoffnungslosigkeit, jeder Lösungsansatz scheint von vornherein schon tot geboren. Talitha, kumi...

 

Talitha Kumi hat aber auch einen konkreten Ort. Man findet ihn heute rund 20km von Jerusalem entfernt. Kein üblicher Ort für christliche Pilgerreisen im oft so un-heiligen Land. Das ist schade, man kann hier soviel lernen. Talitha Kumi, das ist ein Schulzentrum am Rande von Beit Jala, im palästinensischen Gebiet, nahe Bethlehem. Olivenbäume und Wein wachsen hier, es gibt ein Umweltzentrum, eine Hotelfachschule, ein Internat, ein Gästehaus, den Kindergarten, die Grundschule und die Schule bis hin zum Abitur. Ein Tor des Schulgeländes führt zur A-Zone, dem von den Palästinensern selbst verwalteten Gebiet in der Westbank. Die B-Zone gibt es faktisch kaum noch, dort sollten Israelis und Palästinenser zusammenarbeiten. Das andere Tor führt zur C-Zone, dem palästinensischen Gebiet unter vollständig israelischer Verwaltung. Zwischen der A- und der C-Zone also Talitha Kumi, das Schulzentrum. Die Kinderstimmen hier klingen nach Zukunft, nicht nach Konflikt. Schon die Jüngsten lernen ein anderes ABC:

[Eine Kinderstimme singt das deutsche „ABC“...]

 

Viele Kinder hier lernen Deutsch. Später, am Ende ihrer Schulzeit, können sie neben dem palästinensischen sogar das deutsche Abitur ablegen, das DIAP, die deutsche internationale Abitur-Prüfung. Eine deutsche Schule ist Talitha Kumi aber nicht, es gibt hier keine deutschen Schüler, die meisten Lehrkräfte und das Personal sind Palästinenser. Rolf Lindemann, seit vier Jahren Schulleiter in Talitha Kumi, ist Deutscher. Er erzählt von der Geschichte der Schule:

 

Lindemann: „Wir sind schon ein sehr altes deutsch-palästinensisches Projekt. Talitha Kumi ist nämlich bereits 1851 gegründet worden, von den Deutschen, und zwar von den Kaiserswerther Diakonissen und in Jerusalem drüben – aber für Palästinenser, also für arabische Mädchen vor allem, von Beginn an als Schule und als Internat geplant und seit dieser Zeit gibt es die Schule. D.h., sie hat ihren Betrieb kaum unterbrochen, selbst in den Kriegen kaum unterbrochen. Und seit 50 Jahren etwa ist die Schule hier in Beit Jala, sie sind also umgezogen von Jerusalem hier rüber und sind hier auf diesem Berg, der wunderschön ist.“

 

Von diesem Berg aus sieht man die Mauer, schaut auf Bethlehem, sieht den Checkpoint, der nach Israel führt, und Gilo, eine der mehr als 350 umstrittenen israelischen Siedlungen im Westjordanland. Für Israel gehört Gilo zu Jerusalem. UNO und Palästinenser bezeichnen die Siedlung als illegal. Nicht nur die geographische, auch die politische Situation kann man von der Schule aus sehen. Wie fast überall im Westjordanland, 1967 im Sechstagekrieg von Israel erobert und seither unter israelischer Militärverwaltung, aufgeteilt in A-, B- und C-Zonen.

 

Lindemann: „Uns als Schule trifft das natürlich, wir haben übrigens 80 Schüler, die in Jerusalem wohnen und hier zur Schule kommen und jeden Morgen früh den Checkpoint überwinden müssen und dann nachmittags wieder zurück nach Hause fahren. (…)

 

Das geht auch, aber schon diese Beispiele machen deutlich, wie mühselig das ist und im Konfliktfall, und Konflikte gibt es hier immer wieder mal, ist es natürlich so, dass es nicht nur ein Umweg ist, sondern dass es auch ein beschwerlicher Weg sein kann, weil eben mal der eine oder andere Checkpoint oder auch eine Grenze geschlossen sein kann. Und da spürt man eben deutlich, dass man mitten im Konflikt ist.“

 

Nicht selten wird so die tägliche Morgenandacht zum Seismograph für die politische Situation. Talitha ist auch eine christliche Schule, getragen vom evangelischen Berliner Missionswerk.

 

Lindemann: „Zunächst mal sind wir ja ein großes Schulzentrum mit verschiedenen Teilen, wo wir insgesamt 1000 Kinder beschulen. Die Hälfte davon sind Christen, die Hälfte Moslems, die Hälfte Jungs, die Hälfte Mädchen. Das kommt ziemlich genau hin. Wir verstehen uns als eine Schule für die christliche Minderheit und als eine Begegnungsschule zwischen Christen und Moslems.“

 

[Es erklingt Klaviermusik, einige Stimmen singen dazu...] Der Schultag beginnt für alle Schüler mit der Morgenandacht, oft von ihnen selbst gestaltet. Sie singen zusammen, hören auf die Bibel, beten füreinander und miteinander. Manche muslimische Eltern sehen es kritisch, dass die Andacht verpflichtend ist. Für die Kinder ist das einfacher. Religionsunterricht ist in Talitha nicht nur die Einübung in die je eigene Religion, sie lernen Religion auch als Thema wahrzunehmen. Im gemeinsamen muslimisch-christlichen Religionsunterricht kommen die Schüler ins Gespräch miteinander, entdecken Gemeinsamkeiten und Unterschiede, lernen auch zu differenzieren zwischen Person und Religion:

 

Schüler: „Ich denke dass die Religion, so dass man nicht schaut, was ist seine Religion, was ist seine Religion, man schaut, wie diese Person ist. Und auch das alle Leute mit Frieden miteinander leben. Niemand sagt, nein, du bist Christ, geh raus von mein Haus. Niemand sagt, du bist Muslime, geh raus von mein Haus. Ja, also, jeder betet, also Christen, Muslime, alle beten für den selben Gott an. Ja, also, ich denke, dass alle zusammen sein sollen.“

 

Schülerin: „Also, es gibt keinen großen Unterschied bei uns, also es gibt keinen Unterschied zwischen Muslimen und Christen. Zum Beispiel mein Nachbar ist Muslim, kein Problem, beim muslim. Fest gehe ich zu ihm, besuchen, ja, es gibt kein Unterschied. Aber wenn man z.B. wie jetzt vor zwei Wochen gab es die Ostern, dann find man das Fest hier sehr schön. Also dann ist also, Ostern hier ist was anders, dann es ist wie Heimat auch.“

 

Die Deutschen und Talitha Kumi – es ist nur ein kleines Stück christliche und historische Verantwortung, die Deutsche hier in Palästina übernehmen. Das Wohlergehen des einen Volkes, Israel – so der lutherische Pfarrer von Beit Jala – hängt vom Wohlergehen des anderen Volkes, den Palästinensern ab. Und umgekehrt. Eltern schätzen das deutsche Engagement in der Bildungsarbeit in Palästina sehr. Die gute Ausbildung der Kinder, das Erlernen von Fremdsprachen und die gute Vorbereitung auf ein Studium im Ausland sind Hauptgrund für die Schulwahl. Suleiman Abu Dayyeh, Vater von zwei Schülern und eng mit Talitha verbunden, fordert auch Religion als Weg zum anderen:

 

Dayyeh: „Das kann, das muss sie sein, eigentlich. Ich finde gar kein Grund, warum es nicht so sein kann. Auch wenn nach meiner persönlichen festen Überzeugung Religionen über die Geschichte hinweg, nicht nur in der europäischen Geschichte, aber auch in unserer Geschichte, nicht immer eine positive, friedliche, aktive Rolle gespielt haben. Eigentlich waren sie eher die Anstifter zu Konflikten als Mittel zur Koexistenz, zur Begegnung, und zum Dialog. Das gilt für Christentum, das gilt für Judentum aber genauso auch für Islam.“

 

Geschichte und Religion, Staat und Politik – sie lassen sich auch in unserem eigenen Land nicht voneinander trennen. Das beobachten Palästinenser aus eigener Erfahrung sehr genau:

 

Dayyeh: „Wir könnten doch letztendlich nicht die Leidtragenden der deutschen Geschichte eigentlich werden. Und das uns alles gefallen lassen, indem uns immer wieder gesagt wird, wir müssen uns unserer Geschichte stellen. Ja, gerade deswegen muss eine dt. Politik anders aussehen als das der Fall ist. Man kann nicht sagen – ihr Palästinenser dürft die israelische Armee die euch täglich sozusagen drangsaliert nicht mit Steinen bewerfen. Aber wir haben das Recht Israel mit U-Boote zu versorgen. Nicht vereinbar.“

 

Talitha Kumi muss die täglich spürbaren Widersprüche vereinbaren: die traumatischen Erfahrungen von Eltern und Schülern mit dem Schulalltag, dem Bildungsauftrag auch nach palästinensischem Schulrecht – und einem christlichen Menschenbild. Es gibt Mediations- und Anti-Gewaltprogramme, Friedenserziehung ist Teil der Bildung. Sami Adwan, palästinensischer Co-Direktor eines israelisch-palästinensischen Friedens­forschungsinstituts, hat sein Büro in Talitha Kumi. Dieses Institut hat ein ungewöhnliches Schulbuch entwickelt:

 

Adwan: „Dieses Buch und dieses Projekt begann im Jahr 2000. Jetzt schulen wir israelische und palästinensische Lehrer, damit sie in der Schule auch in die Geschichtserzählung der jeweils anderen Seite einführen können. Wir haben festgestellt, dass weder die Palästinenser noch die Israelis das tun...“

 

 

 

Die offizielle Benutzung in ihren Schulen lehnen beide Ministerien ab, noch. Die Mauer ist auch in den Köpfen. Das Buch will Freiraum schaffen – links eine Spalte für die israelische Geschichtsschreibung, rechts die palästinensische. Dazwischen ein freier Raum für Fragen, Diskussion und eine eigene Sicht. Auf keiner Seite ist die eigene Sicht frei von persönlichen Erfahrungen – und immer voller Emotionen. Talitha Kumi schenkt auch dafür Freiraum:

 

Dalia: „Ich heiße Dalia und habe dieses Gedicht über die Situation hier in Palästina geschrieben:

 

Ich bin Palästinenserin. Mein Alter ist unbestimmt.

Ich bin Palästinenserin, Symbol der Freiheit.

Ich bin Palästinenserin. Ich lebe im Himmel, auf Erden und im Wasser.

Ich bin Palästinenserin, die die Zeit mit Menschlichkeit herausfordert.

Ich bin Palästinenserin, die Zionismus mit Friedlichkeit trotzt.

Ich bin Palästinenserin, und sie haben mich als Terroristin registriert.

Ich bin Palästinenserin. Und sie nahmen mir weg meine Familie, mein Haus und meine Identität.

Ich bin Palästinenserin und Palästina ist mein Land, das sich weit über die rassistischen Trennmauern erstreckt.

Ich bin Palästinenserin. Ich habe einen Stein, und sie haben dagegen einen Panzer.

Ich bin Palästinenserin, und ich glaube an den Islam und ans Christentum.

Ich bin weder Fatah-, noch PFLP-, noch Hamas- und noch Jihad-Anhängerin,

Ich bin Palästinenserin, Palästinenserin.“

[Frei übersetzt aus dem arabischen Originaltext: Zaki G. Issa-Awwad]

 

In der biblischen Geschichte spricht Jesus dem totgeglaubten Mädchen Leben zu, gegen das Gerede der Leute. Die Krankheitsgeschichte spielt für ihn keine Rolle. Talitha, kumi! Mädchen, steh auf!

 

Dalia ist aufgewachsen im Flüchtlingslager, ihren Vater kennt sie kaum, 12 Jahre ihrer Jugend hat er im Gefängnis verbringen müssen. Dalia ist Schülerin hier in Talitha Kumi. Sie teilt die große Hoffnung: Talitha, kumi! – gegen das, was vor Augen ist:

 

Dalia: „Unbedingt, das ist ein friedvolles Land. Es wurde für alle Bewohner gemacht... und für alle Gedanken.“