Morgenandacht
Opa war Milliardär
12.08.2015 06:35

Mein Opa war Milliardär. Er lebte in einem Dorf voller Millionäre und Milliardäre am Rande des Ruhrgebiets. Der Name des kleinen Örtchens ist nicht der Rede wert, nur eine kleine Ansammlung von Häusern. Das Anwesen meines Milliardärs-Opas sah so aus: Ein großes Grundstück. Darauf ein gedrungenes Fachwerkhaus. In der Küche ein Kohleofen, hinter der Küche die Waschküche, hinter der Waschküche der Stall, im Stall ein Plumpsklo, neben dem Plumpsklo die Box fürs Hausschwein. Hinterm Haus ein Hühnerstall, hinter dem Hühnerstall ein Garten, in dem Kartoffeln und Zwiebeln, Stangenbohnen und Früchte gediehen. Das war das Anwesen meines Opas. Seine Kleidung bestand gewöhnlich aus einer groben Hose, einer ebenso groben Jacke, einer rauen Kappe und schweren Holzpantinen.

 

Wer jetzt meint, er sei eine Art verkappter Dagobert Duck auf Westfälisch, ein Mann, der zu geizig ist sein Vermögen auszugeben, der irrt. Er war es nicht und auch sein Heimatdorf der Milliardäre war kein Ortsteil von Disneyland. Opa arbeitete auf der Zeche und verdiente dort: Milliardenbeträge. Nicht als Kohlebaron, sondern als einfacher Arbeiter. Alle verdienten so viel wie er. Damals in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

 

 

Warum ich das erzähle? Der Paritätische Wohlfahrtsverband vermeldete vor einiger Zeit den Höchststand der Armut in unserem Land. Arm ist danach, wer weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens bezieht. „Armutsschwindel!“[1] rief die Wochenzeitung DIE ZEIT im Chor mit anderen. Haha! Was für eine Dummerei, diese Rechnerei mit dem mittleren Einkommen, höhnten die Spötter. Und dann rechneten sie vor: angenommen alle würden auf einen Schlag das Zehnfache verdienen. Dann würde das mittlere Einkommen enorm steigen. Dann hätten die mit zehntausend im Jahr hunderttausend, und doch gälten sie im Armutsbericht immer noch als arm. Haha – viele haben mitgelacht und sich gefreut, dass das Armutsproblem nur ein großer Rechenschwindel ist. Und ich habe an die alte Millionenbanknote meines Opas gedacht, die aus jenen Zeiten überlebt hat. Sie ist Zeuge, dass auch der Millionär ein armer Mann ist, wenn er unter Phantastilliardären lebt. Und mir ist das Lachen vergangen. Mein Opa war ein armer Milliardär, der erlebte, was es bedeutete, wenn man von einem Tag zum anderen das Hundertfache verdient. Es bedeutet, dass sich das Brot hunderfünfzigfach verteuert.

 

 

„Es sollte überhaupt kein Armer unter Euch sein.“ (5. Mose 15,4) So kurz und bündig lautet Gottes Ansage in der Bibel. Armut ist danach nicht ein gottwohlgefälliger, sondern ein gottloser Zustand der Gesellschaft. Er gehört darum nach christlicher Auffassung abgeschafft. Es wäre aber ein billiges Christentum, das die Armut abschafft, indem man sie gemütlich wegdefiniert. Armes Gemüt, das sich damit zufrieden gibt, dass hierzulande keiner verhungert und ohne Schuhe laufen muss. Es ist wichtig, den Skandal der relativen Armut nicht zu relativieren.  Auch wenn es vor hundert Jahren ein Luxus war, einen Fernsprecher zu haben, ist es heute kein unnötiger Luxus, ein Handy zu besitzen. Auch wenn andere Weltregionen nicht mit Zentralheizung versorgt sind, ist es nicht akzeptabel, wenn hierzulande einer im Winter friert, weil er sich die Energiekosten nicht leisten kann. Und: der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Matthäus 4,4), weiß auch schon die Bibel. Er ist ein soziales Wesen und lebt davon, dass er mitmachen kann, was andere machen: Dass er sich eine Zeitung leisten kann, um zu wissen, was los ist um ihn herum. Dass er sich leisten kann, anderen etwas zum Geburtstag zu schenken. Dass er sich leisten kann, auch mal Gäste einzuladen. Dass er nicht sagen muss: „ich habe keine Zeit“, wenn er nicht genug Geld hat, um mit ins Kino zu gehen. Wer das alles nicht kann, der stirbt – nicht den leiblichen, aber den langsamen, demütigenden sozialen Tod.

 

 

Auch wenn man es nicht gern hören mag: 12,5 Millionen Menschen leben in Armut im reichen Deutschland. So ist es. Und das soll um Gottes Willen nicht sein.

 

[1] http://www.zeit.de/2015/09/armut-bericht-paritaetische-wohlfahrtsverband

Sendungen von Pfarrerin Silke Niemeyer