Morgenandacht
Der innere Retter
24.08.2015 06:35

Abenddämmerung. Nach Feierabend ist er unterwegs nach Hause. Zwei Autos fahren vor ihm über die Landstraße und streichen mit ihren Scheinwerfern durch die aufkommende Dunkelheit. Da – am Ende der Kurve – liegt da nicht ein Wagen im Graben? Die beiden Autofahrer vor ihm fahren weiter. Vielleicht haben sie das Auto im Graben zu spät gesehen. Oder sie denken: Der Unfall ist sicher schon länger her, der Wagen muss nur noch abgeschleppt werden. Vielleicht auch: Lieber schnell vorbei, wer weiß, was mich erwartet und ob ich alles richtig mache...

 

Er ist der dritte Autofahrer, der an der Unfallstelle vorbeifährt – und er handelt. Er tritt die Bremse, legt den Rückwärtsgang ein, stoppt den Motor, greift nach Warndreieck und Verbandszeug, steigt aus und stellt das Warndreieck auf. Dann läuft er zu dem Wagen im Graben, sieht den Mann, der verletzt im Wagen einklemmt ist, greift zur Fahrertür, aber sie lässt sich nicht öffnen...- „Hallo, hören Sie mich?“ – Er sieht eine Handbewegung aus dem Inneren des Wagens. Rasch greift der Helfer zu seinem Handy und wählt 112.

Würde man heute das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ erzählen, dann würde es vielleicht so klingen. Jesus hat es natürlich anders erzählt. Er beginnt seine Geschichte so. Da ist ein Mann unterwegs von Jerusalem nach Jericho. Jerusalem liegt im Gebirge, Jericho unten im Tal. 27 Kilometer sind die Orte entfernt. Dazwischen eine einsame Landschaft, ein kurviger Abstieg von mehr als 1000 Höhenmetern. Händler haben es schwer und Räuber leicht.

 

Hier also – an dieser bergigen Straße – wird ein Mann von Räubern überfallen. Verletzt lassen sie ihn am Boden liegen. Zwei Männer kommen, gehen aber schnell vorbei, erst der dritte wendet sich dem Verletzten zu und versorgt seine Wunden. Dann setzt er ihn auf seinen Esel und bringt ihn in ein Gasthaus. Dieser Helfer lässt sogar Geld da, damit der Verletzte sich erholen kann.

 

Die Geschichte jenes Mannes, der sich selbstlos einem Verletzten zuwandte, hat sich tief in das Menschheitsgedächtnis eingebrannt. Sie ist eine der bekanntesten Geschichten der Bibel. Ein Gleichnis für tätige Nächstenliebe und eine „Beispielerzählung“ mit einem markanten Schlusssatz. Denn Jesus sagt am Ende: Geh hin und handle ebenso! – So ist der „barmherzige Samariter“ zum Vorbild für viele Retter und Helfer geworden.

 

Heute haben sie andere Namen. Es sind z. B. die Retter und Helfer bei Feuerwehr, Polizei und Rettungskräften. In unterschiedlichen Notsituationen werden sie gerufen und steigen in Einsatzwagen und in Löschfahrzeuge. Sie handeln wie der „barmherzige Samariter“, der mit seinem Lasttier, einem Esel, an jenem Verletzten vorbeikam, die Wunden verband und den Verletzten in Sicherheit brachte. Ihr Einsatz ist nicht selbstverständlich... – und ist für unsere Gesellschaft unverzichtbar. Ich vermute, dass Sie viel häufiger einen „Not-Ruf“ hören als ein „Vielen Dank“.

 

Auch der Mann, der nach dem Unfall mit seinem Auto im Graben liegt, erfährt Hilfe. Er steht unter Schock, bekommt nicht viel mit, leidet unter Schmerzen. Doch es dauert nicht lang, da kommt Bewegung an den Unfallort: Einem Retter der Feuerwehr gelingt es, die hintere Tür zu öffnen, er setzt sich auf die Rückbank. Und dann redet er mit dem Verletzten, während draußen Werkzeuge wie Rettungsschere und Rettungszylinder zum Einsatz kommen. Es gibt einen Fachbegriff für ihn, habe ich gelernt: „Innerer Retter“.

 

Ich selbst bin noch nie in eine derartige Notsituation geraten. Darum kann ich mir nur vorstellen, wie das ist, hilflos zu sein, ausgeliefert, bewegungsunfähig, vielleicht eingeklemmt. Wenn alle Sicherheit abfällt und ich nur auf Hilfe von außen hoffen kann. Ich ahne, was es mir bedeuten wird, wenn der „innere Retter“ dann zu mir in meinen zerstörten Wagen steigt, erste medizinische Maßnahmen einleitet, mich anspricht, mir vielleicht die Hand hält. Ich glaube: In Momenten wie diesem sind wir ganz „Mensch“. Wenn wir in Not sind – und wenn wir anderen in der Not beistehen.

Sendungen von Superintendent Jan von Lingen