Morgenandacht
Die Kamera in den Trümmern
25.08.2015 06:35

In einer Kirche ist auf einem Kunstwerk eine dunkle, bedrückende Szene zu sehen: Ein Mann liegt am Boden. Sein Körper liegt unter einem Holzbalken wie unter Trümmern. Man sieht nur die Arme des Mannes und seinen Kopf. Der Mann sucht händeringend nach Hilfe. Von der Seite kommt Hilfe, so scheint es. Denn ein anderer geht auf den Verletzten am Boden zu. Er leuchtet mit einem hellen Licht in die dunklen Trümmer hinein. Doch gleich darauf wird deutlich: Das Licht des vermeintlichen Helfers ist ein Kameralicht. Der Mann filmt den Verletzten vor seinen Füßen, rückt ihm mit seinem grellen Scheinwerferlicht am Boden näher. Beobachtet wird er dabei von Schaulustigen am Rand. Sie wirken unbeteiligt, haben die Hände in den Hosentaschen. Niemand hilft dem Mann unter den Trümmern. Alle glotzen nur.

 

Zu sehen ist dieses ungewöhnliche Bild in der Stiftskirche in Bücken bei Nienburg. Es gehört zu einem modernen Kreuzweg, der in diesem Jahr der „Ökumenische Kreuzweg der Jugend“ war. Station für Station wird hier das Leid der Passionsgeschichte vor Augen geführt. Auf das wettergefärbte Grün alter Kupferbleche hat der Künstler Pablo Hirndorf Figuren eingearbeitet, sie stammen von Fotos aus Tageszeitungen. So trifft das Foto des Kriegsreporters in diesem Kreuzweg auf die Überlieferung der Bibel. Das Dokument aus dem Krisengebiet zeigt einen geschundenen Mann – der aussieht, als sei er unter einem Kreuz zusammengebrochen.

 

Ist es Jesus, der unter der Last seines Kreuzes gestürzt ist? Vielleicht liegt hier ja auch ein Mann unter den Trümmern seines Hauses oder ein geschlagener Körper auf einem Schrottplatz. Das Kunstwerk bleibt vieldeutig. Eindeutig ist die Sache mit der Kamera. Ein Lichtkegel leuchtet das Dunkel aus. Doch die vermeintliche Rettung entpuppt sich als knallharte Sensationsgier. Der Kameramann filmt das Leid vor seinen Füßen – ohne Mitgefühl zu zeigen. Wie auch die anderen unbeteiligten Beobachter am Rand des Bildes, die Zuschauer. Der Künstler selbst deutet die Situation so: "Wenn zum Beispiel im Sport oder in der Politik jemand zusammenbricht, dann wird noch mal voll drauf gehalten. Der Mensch kann sich nicht dagegen wehren – das steht für den Zusammenbruch."

 

Mich berührt dieses Kunstwerk. Oft genug zeichnen sich im grellen Licht der Öffentlichkeit tatsächlich Dramen wie dieses vor unseren Augen ab. Immer wieder zeigen Kameras das Leid unserer Welt. Ein Flugzeug ist gestartet und nicht angekommen. Nach einem Erdbeben suchen Menschen vergeblich nach Lebenszeichen von Verschütteten. Wieder ist im Mittelmeer ein Boot mit Flüchtlingen untergegangen. Viele Nachrichten führen ins Grauen, die Kameras übertragen das Leid hautnah in unsere Wohnzimmer. Wieder und wieder erreichen uns Bilder von Leid und Tod – und lassen uns oft genug seltsam unbeteiligt zurück. Sind wir wie die Zuschauer am Rande? Hände in den Hosentaschen, glotzend? Halten wir unsere Kameras auf das Leid, anstatt die Hand auszustrecken und zu helfen?

Es reicht nicht, den Bildern der Kamera mit den Augen zu folgen. Beim unbeteiligten Zuschauen darf es nicht bleiben. Jeder Leidensweg will in uns etwas bewirken. Das Herz berühren. Damit wir mitfühlen. Und Helfen. Manchmal geschieht dies. Eine gerettete Frau aus einem gekenterten Flüchtlingsboot erzählt ihre Lebensgeschichte, die mich berührt. Oder ich denke an Angehörige eines Opfers, schicke vielleicht ein Stoßgebet zum Himmel. Viele spenden bewusst für die Katastrophenhilfe. Oder suchen sich ein Projekt, das sie besonders unterstützen. Manches Hilfsprojekt ist über Jahre gewachsen und hat Unglaubliches bewirkt.

 

Viele Kreuzwege kreuzen unsere Wege. Sie verlangen nach Hinsehen und nach Zuwendung. Denn das Leid der Welt soll Menschen nicht trennen, sondern verbinden.

Sendungen von Superintendent Jan von Lingen