"Mein Kampf" – Hitlers irre Programmschrift – ist Anfang des Jahres neu aufgelegt worden. In einer von Wissenschaftlern kommentierten Fassung. Es ist gut, dass Nachgeborene sich aktuell und kritisch mit dieser Grundlage faschistischer Naziprogramme auseinandersetzen. Die Folgen von Hitlers Hetzschrift sind erkennbar an unzähligen Namen, Schicksalen und Orten.
Auf eine ganz andere Weise, in der Perspektive der Opfer, erinnert eine im letzten Jahr erschienene CD daran. An Lieder aus den Lagern und aus dem Widerstand. Auf dem Cover eine gestreifte Sträflingsjacke, ein rotes Dreieck aufgenäht, Zeichen der politischen Gefangenen, menschenverachtende Markierung. "Und weil der Mensch ein Mensch ist" – Der Titel der CD zitiert Bertolt Brecht, das Lied von Hanns Eisler. Da wird die Erklärung der Menschenrechte bereits 1934 vorweggenommen.
Und weil der Mensch ein Mensch ist,
drum braucht er was zu essen, bitte sehr! …
Und weil der Mensch ein Mensch ist,
drum braucht er auch noch Kleider und Schuh! …
Und weil der Mensch ein Mensch ist,
drum hat er Stiefel ins Gesicht nicht gern.
Was zu essen, Kleider und Schuh, Freiheit – das brauchen Menschen zum Leben. Auch heute, 71 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des faschistischen Terrors, stehen solche grundlegenden Bedürfnisse immer noch aus.
So ist es mehr als eine Erinnerung, was die "Grenzgänger", diese Bremer Gruppe um Michael Zachcial, da an verschollenen Liedern ausgegraben und musikalisch neu entdeckt haben.
Die Lieder der Häftlinge erzählen von dem unermesslichen Leid der Inhaftierten, von ihren Ängsten und Sorgen, von ihren Qualen und ihren Hoffnungen, – und von ihrem Mut zu überleben. Das Booklet zur CD bringt die Lieder nahe – im Kontext ihrer Entstehung:
"Die Musiker unter ihnen mussten für die Nazi-Schergen spielen und singen, wenn gefoltert und gemordet wurde, beim Marschieren, wenn sie schuften mussten in der Industrie oder "kuhlen" im Moor, sie waren auch hier ungehorsam, sangen mit Absicht schief, zu leise, zu laut, tauschten Worte aus, sangen heimlich in den Baracken ihre eigenen Lieder, schmuggelten sie hinaus, auf allem, was man beschreiben konnte"
Und diese Lieder gehen unter die Haut, beschäftigen, erinnern an die Befreiung aus dem KZ Auschwitz am 27. Januar 1945. Auschwitz, das größte nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager. Auschwitz, der Ort, wo weit über eine Million Menschen, vor allem jüdische Frauen, Männer und Kinder, ermordet wurden.
1995 erklärte der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Tag dieser Befreiung zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus.
Gedenken, Erinnern – sich berühren, aufrütteln und anstoßen zu lassen, damit es anders wird. Der 27. Januar, ist auch ein zutiefst christlicher Gedenktag, ein "Stolperstein" in der Zeit.
Er zeigt: Es gab und gibt Alternativen zum Schweigen, zu stummer Missbilligung, zu ängstlicher Selbstbehauptung. Zum Beispiel: Lieder, wo Worte allein versagen, wo Menschen keine Antworten und Erklärungen finden. Manchmal unbegreiflich halten die Lieder der Gefangenen Hoffnung wach: "Uns geht die Sonne nicht unter".
Graue Kolonnen ziehen ins Moor, Arbeiterreih’n ohne Ende.
Posten zur Seite, Posten davor, Posten am Zugesende.
…
Doch strahlt uns im Osten ein Morgenrot,
aufleuchtend, hell wie ein Wunder,
kündet uns allen ein Ende der Not.
Uns geht die Sonne nicht unter!
Bilder steigen in mir auf: Sommer 1963, ich bin 16 Jahre alt, unterwegs mit meiner evangelischen Pfadfindergruppe mit dem Fahrrad durch das Emsland, nicht weit entfernt das Konzentrationslager Börgermoor.
Abends, am Lagerfeuer, erzählt einer von den 1000 politischen Gegnern des Nazi-Regimes, die hier eingesperrt waren. Die Gefangenen – bewacht von SA und SS – mussten hier Wege und Gräben anlegen und das Moor kultivieren. Zermürbende Arbeit, unzureichende Ernährung, mangelhafte Kleidung und Misshandlungen bis hin zu Morden, all das prägt das Leben der Häftlinge. Schließlich stimmt einer das Lied von den "Moorsoldaten" an, es erzählt vom freudlosen Alltag im Lager und von Todesangst, aber auch von unendlicher Sehnsucht nach Heimkehr, von ungebrochenem Widerstandsgeist, von Hoffnung auf einen neuen Anfang: "ewig kann’s nicht Winter sein!"
Doch für uns gibt es kein Klagen,
ewig kann’s nicht Winter sein.
Einmal werden froh wir sagen:
Heimat, du bist wieder mein.
Dann ziehn die Moorsoldaten
nicht mehr mit dem Spaten
ins Moor!
Ein paar Jahre später, Herbst 1968, ein anderer Ort. Ich besuche Prag und komme auch nach Lidice und Terezin, Theresienstadt.
Besonders das unmenschliche Schicksal von Kindern berührt.
In Prag ist auch das so genannte "Kinderlied aus dem Dritten Reich" entstanden. "Mein Vater wird gesucht."
Mein Vater wird gesucht,
er kommt nicht mehr nach Haus.
Sie hetzen ihn mit Hunden,
vielleicht ist er gefunden –
und kommt nicht mehr nach Haus.
…
Heut weiß ich ganz genau,
warum sie das getan.
Wir werden doch vollenden,
was er nicht konnt’ beenden –
und Vater geht voran!
Diese Zeile geht nach – und die Einstellung zum Leben, die sich damit verbindet.
Es bleibt nicht alles, wie es ist, es kommt etwas Neues, ein neuer Himmel und eine neue Erde. Solche Hoffnung überlebt.
Jahre später, im Sommer 1990 bin ich im KZ Buchenwald, Übernachtung in der Jugendherberge, ehemaliges Dienstgebäude der KZ-Offiziere, eine merkwürdig berührende Erfahrung über diese Flure zu gehen, in diesen Räumen zu übernachten und miteinander zu essen. Worte wie "Freiheit" füllen sich hier neu mit Inhalt. Was mag es heißen, unter solchen Umständen "trotzdem Ja zum Leben zu sagen".
Da wird das Leben des evangelischen Pfarrers Paul Schneider lebendig, 1938 inhaftiert. Er hatte öffentlich Kritik an der nationalsozialistischen Regierung geübt, und auch im KZ blieb er unbeugsam, weigerte sich beim Fahnenappell seine Häftlingsmütze vor der Hakenkreuzfahne abzuziehen und mit dem Hitlergruß zu grüßen. Die Folgen für ihn waren schrecklich, bis zu seiner Ermordung täglich neue Misshandlungen und Qualen, dennoch rief er täglich aus seinem Zellenfenster den auf dem Appellplatz angetretenen Häftlingen Worte der Bibel zu, als Losung zum Trost und zum Mutmachen.
Das Buchenwaldlied macht solche Erinnerung lebendig. Hermann Leopoldi, der überlebende Komponist des Liedes, berichtet viele Jahre später (1959):
"Der sadistische Lagerkommandant wusste nicht, dass zwei jüdische Häftlinge das Lied geschrieben hatten, ein Kapo (ein als Aufseher ausgewählter Häftling) mit besten Kontakten zur SS hatte sich als Verfasser ausgegeben: Dieser Buchenwaldmarsch gefiel dem Lagerführer außerordentlich, in seiner Beschränktheit sah er gar nicht, wie revolutionär das Lied eigentlich war. Der Marsch wurde unsere Hymne, die wir bei jeder Gelegenheit sangen, und vor allem der Refrain wurde zum Ausdruck unserer Hoffnung. Durch unsere Arbeitskolonnen wurde das Lied in die umliegenden Dörfer getragen, und es war bald im ganzen Land bekannt."
…
Die Nacht ist so kurz und der Tag so lang,
doch ein Lied erklingt, das die Heimat sang.
Wir lassen den Mut uns nicht rauben!
Halte Schritt, Kamerad, und verlier nicht den Mut,
wir tragen den Willen zum Leben im Blut
im Herzen, im Herzen den Glauben!
O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal bist.
Wer dich verließ, der kann es erst ermessen, wie wundervoll die Freiheit ist!
O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen, und was auch uns’re Zukunft sei,
wir wollen trotzdem "ja" zum Leben sagen, denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei!
1993, Besuch in Auschwitz. Es sind noch zahlreiche Überlebende, die erzählen. Davon, wie sie am 27. Januar 1945 befreit wurden. Und von allem, was der Befreiung vorausging. Sie erzählen von der gespenstischen Atmosphäre des Lagers, von Baracken in Reih und Glied, von der entwürdigenden Arbeit im Lager, dem Sortieren von Kinderschuhen, von dieser unglaublichen Unmenschlichkeit, dass Menschen und Kinder verbrannt wurden, und die Welt dazu schwieg.
Gegen das immer wieder auflebende Verdrängen und Vergessen – ein weiteres Lied von der CD. Das Auschwitz-Lied. Es spannt den Bogen von dem verhaßten und verfluchten KZ hin zu den Träumen vom Elternhaus, zum Gruß an die Lieben und zur Hoffnung auf Gedenken.
Sollte ich dich, Heimat, nicht mehr wiederseh’n
und wie viele Tausend durch den Schornstein geh’n,
seid gegrüßt ihr Lieben an unbekannten Ort,
gedenket manchmal meiner, der ich musste fort.
Eine Liederreise, ein tönender Rückblick, der an die Gräuel und das Ende der NS-Gewaltherrschaft erinnert.
Eine Liederreise, die wachruft:
Ich bin für mein Handeln verantwortlich – und mein Glaube bestärkt mich, immer wieder aufzustehen, den Mund aufzumachen und Widerstand zu leisten, wenn es not-wendig ist, gerade dann – wenn Menschen ihre Würde abgesprochen wird, erst recht – wenn Menschen unter die Räder kommen, und ganz besonders – wenn Flüchtlingsunterkünfte angezündet und Frauen ohne Achtung angegriffen werden.
Die Bergpredigt Jesu schärft das ein:
"Selig sind die, die keine Gewalt anwenden.
Selig sind die, die Frieden stiften.
Selig sind die, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden."
Mein Sohn hat diese CD mir, seinem Vater, geschenkt. Das macht mir Hoffnung – auf ein Erinnern gegen das Vergessen. Ein Erinnern für die Zukunft.
Denn "es kommt die Stunde, da man dich braucht..." So hat die "Weiße Rose" gesungen, die Münchener Widerstandsgruppe um Hans und Sophie Scholl. Gegen das Getöse der Zeit – ein Lied. Mit der Kraft zu leben, gestern, heute und auch morgen.
Die Stunde kommt, da man dich braucht.
Da sei du ganz bereit,
und in das Feuer, das verraucht,
wirf dich als letztes Scheit.
Musik dieser Sendung:
CD: Und weil der Mensch ein Mensch ist. Lager – Lieder – Widerstand.
Interpret: Die Grenzgänger. Frederic Drobnjak, Michael Zachcial, Annette Rettich, Felix Kroll