Am Sonntagmorgen
Bild: Gerhard Duncker
Zwischen den Fronten
Syrisch-orthodoxe Christen in der Osttürkei
10.07.2016 08:35

 

Sendung zum Nachlesen

„Wo kommen Sie her? Was ist Ihre Heimat?“ Die Frage klingt einfach. Im Personalausweis steht mein Geburtsort. Aber da bin ich nicht aufgewachsen. Es gibt die Kleinstadt meiner Kindheit und die Großstadt, in der ich zur Schule gegangen bin. Dann war ich weiter auf Wanderschaft zum Studium, für berufliche Stationen und aus Liebe. Es geht heute vielen so, dass nicht mehr nur ein Ort ihre Heimat ist. Und irgendwann kommt die Frage nach den eigenen Wurzeln. Das kann die Familie sein, der Gefährte meines Lebens, Freundschaften, die durch die Jahre und über Entfernung hinweg halten. Für viele gehört der Glauben an Gott zu ihren Wurzeln. So ein Mensch ist Augin Yalçın. Der 35-Jährige hat mehrere Heimaten. Er ist syrisch-orthodoxer Christ, kommt aus dem Osten der Türkei und lebt seit seiner Kindheit in Deutschland.

 

„Heimat bedeutet für mich meine Geschichte, meine Sprache, meine Wurzeln. (…) Und diese Heimat ist Deutschland geworden, weil ich mit meinen Nachbarn die deutsche Sprache spreche, wenn ich einkaufen fahre, die deutsche Sprache spreche. Selbst meine Träume sind in Deutsch geworden. Aber die Wurzel ist aus Mesopotamien, genauer gesagt aus dem Tur Abdin. Und ich bin ein Mensch, der zwischen diesen zwei Kulturen lebt, ein Christ aus Antiochien ursprungs, einer aus dem Orient, der jetzt glücklich im Okzident lebt.“

 

Antiochien, Mesopotamien – das ist das Zweistromland zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris, die beide in der Türkei entspringen. Augin Yalçın stammt als Christ aus dem Südosten der Türkei. Dem Land, in dem der Stammvater und die Stammmutter des jüdischen Volkes Abraham und Sara geboren wurden. Hier hat man die Nachfolger von Jesus zum ersten Mal Christen genannt (Apostelgeschichte 11,26). Bis heute gibt es hier Menschen, die Aramäisch sprechen, die Sprache von Jesus und seinen Jüngern. Wo heute der syrische Bürgerkrieg nur wenige Kilometer entfernt ist, wo sich der türkische Staat und die kurdische PKK blutig bekämpfen, dort steht die Wiege des Christentums, von hier aus ist der Apostel Paulus zu seinen Missionsreisen bis nach Europa aufgebrochen.

 

Freitagabend in Adıyaman, einer Großstadt im südöstlichen Anatolien. Rauch zieht durch die Straße. Im syrisch-orthodoxen Bischofssitz gibt es heute Abend „mangal“. Zu Deutsch: Die Gemeinde grillt. Die Kirche liegt hinter einer leuchtend weißen Mauer und wird von der Polizei bewacht. Man tritt durch ein Portal mit einem Kreuz über den beiden Holztürflügeln. Der Hof ist wie eine Oase. Der Sandstein der frisch renovierten Kirche strahlt die Wärme des Tages ab. Ein Nussbaum ragt über die Gebäude und breitet seine Zweige wie ein Dach über den Hof. Um seinen Stamm hat die Gemeinde eine Rundbank gezimmert, auf der einige Ältere Platz genommen haben. Bischof Gregorius erklärt stolz: „Das ist der größte Baum von Adıyaman.“ Unter dem Schatten der Äste steht eine Tischtennisplatte für Jugendliche. Auf dem Rasenstreifen um die Kirche herum sind eine Schaukel und ein Karussell in knallbunten Farben für Kinder aufgestellt. Der Kirchenvorsteher Emin, von Beruf Schmied, wendet die Köfte-Spieße auf dem Grill. Der Muezzin der Moschee in der Nachbarschaft ruft zum Freitagabendgebet. Bevor das Grillfleisch aufgetischt wird, gehen die gut 70 Mitglieder der christlichen Gemeinde zum Gottesdienst in die Kirche.

Als Besucher aus Deutschland bewundere ich die Ruhe, die auf diesem kleinen Flecken liegt. Die Christen hier haben es nicht leicht. Sie sind eine kleine Minderheit und leben in der Gefahr, zerrieben zu werden in den Konflikten um sie herum. Jeden Tag kann es Bombenanschläge geben. Die richten sich vor allem gegen die türkische Polizei und das Militär. Aber jeder in dieser Region kann zwischen die Fronten geraten, zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Viele Familien stellen sich immer wieder die Frage: Sollen wir bleiben oder gehen? Da ist Meri, eine junge Frau, Mutter von zwei Kindern. „Wir kommen aus Syrien, aus Aleppo“, ruft sie in die Runde. Sofort schießen ihr Tränen in die Augen. Vor einigen Monaten ist sie in die Türkei geflüchtet. Ihre Eltern sind in Schweden. Meri hofft, mit ihren Kindern nachkommen zu können. Hier in Adıyaman gehört sie ganz selbstverständlich zur syrisch-orthodoxen Gemeinde.

Die Frauen der Gemeinde scharen sich um ein Baby. Die Kleine wurde vor einer Woche auf den Namen Vanessa getauft. Ihre Mutter Marta ist eine mollige Anfang 20-Jährige mit warmem Lächeln. Als Kind kam sie nach Deutschland. Sie hatte es dort schwer. Zehn Jahre lebte sie mit ihrer Familie in einem Asylbewerberheim in Heilbronn. Sie konnte nicht zur Schule, bekam nur einen Deutschkurs. Nun hat sie ihren Mann kennen gelernt. Ein syrisch-orthodoxer Christ wie sie. Dessen Familie lebt bei Adıyaman. Darum ist Marta mit ihrem Mann in die Südosttürkei zurückgekehrt. Trotz aller Schwierigkeiten sagt sie: „Es geht uns gut hier. Vielleicht kann ich die Schule nachholen. Aber jetzt habe ich erst einmal mein Kind.“

Was macht das Leben der Christen in der Türkei schwierig? Johannes, ein junger Mathematiklehrer, erzählt: „Viele Christen haben Angst: Was denkt mein Nachbar über mich? Es gibt immer Leute, die uns als ‚Gavur‘, als Ungläubige beschimpfen, weil wir keine Muslime sind.“

Trotzdem hat sich die syrisch-orthodoxe Gemeinde von Adıyaman in den vergangenen fünfzehn Jahren neu gesammelt. Heute kommen wieder gut 500 Menschen aus der ganzen Region zur Kirche. Sie sind Türken. Ihre Familien sind seit Generationen Christen und leben seit Jahrhunderten hier. Es ist Bischof Gregorius zu verdanken, dass die Gemeinde neu auflebt. Der 58-Jährige hat einige Zeit in Deutschland gelebt. Er ist in seine Heimat zurückgekehrt, in das uralte Gebiet der Christen im Südosten der Türkei, um für seine Leute da zu sein. Wie schafft man das, neu anzufangen, wo andere längst aufgegeben haben?

 

Bischof Gregorius ist ständig in Aktion. Die grauen Haare trägt er zur Igelfrisur kurz geschnitten. Der weiße Bart reicht ihm bis zur Brust. Randlose Brille vor regen Augen, schwarzer Anzug mit Kreuz am Revers, rotes Hemd, unter dem Jackett die Kapuze eines syrisch-orthodoxen Mönchs, die er sich zum Gebet über den Kopf zieht. Die Kapuze ist aus schwarzem Stoff mit dreizehn weiß gestickten Kreuzen – vorne zwölf Kreuze für die zwölf Apostel, auf dem Hinterkopf ein Kreuz für Christus. Mit dynamischen Schritten ist der 58-Jährige meistens vorneweg und fast immer am Handy. Es gibt keine abgeschiedene Provinz mehr, seit es Smartphone gibt. Bischof Gregorius skypt auf der Fahrt im Kleinbus über Land schnell mal mit einem syrisch-orthodoxen Religionslehrer im nordrheinwestfälischen Herne. Er telefoniert mit türkischen Behörden, um einen Besuch im Flüchtlingscamp zu organisieren. Das macht einen großen Unterschied zum Kurdenkonflikt in den 1990er Jahren. Auch damals gerieten die Christen in der Südosttürkei zwischen die Fronten. Sie fühlten sich in ihren zerschossenen Dörfern von der Welt abgeschnitten. Heute können sie sofort über Facebook oder SMS Nachricht geben, wo es einen Bombenanschlag gegeben hat oder in welchem Gebiet Kämpfe stattfinden. Bischof Gregorius hat sein Deutsch zum Teil in Regensburg gelernt. Er sagt heute noch auf gut bayerisch „Gemma, gemma“, zu Deutsch: „Gehen wir, los jetzt!“ Das passt zu seinem Wesen, das immer vorwärts drängt. Mit dieser Schubkraft hat er seine Gemeinde neu aufgebaut.

 

Als Bischof Gregorius 2001 nach Adıyaman kam, war das Gebäude der syrisch-orthodoxen Kirche heruntergekommen. Es gab keinen Priester, der Gottesdienst feierte, taufte, traute oder Beerdigung hielt. Die Mitglieder der Gemeinde waren ausgewandert oder abgetaucht. Gregorius begann, die Kirche zu renovieren und ein Gemeindehaus zu bauen. Dafür sammelte er Spenden in Deutschland und Europa. Und er besuchte seine Leute, die weit verstreut wohnen, bis zu 500 Kilometer entfernt. Die ersten Jahre haben viel Kraft gekostet. Mal wurde er als christlicher Bischof auf der Straße beschimpft, mal wurde sein Auto beschmiert. Heute wirkt das anders. Gregorius kennt viele, und viele kennen ihn. Der Empfangschef in einem Hotel, selbst Muslim, holt seine beiden kleinen Töchter, als er Gregorius sieht. Der Bischof legt den Mädchen kurz die Hand auf den Kopf und sagt ihnen ein paar gute Worte. Was treibt ihn an, was stärkt ihn? Gregorius sagt: „Glaube ist das Wichtigste. Ohne Glauben können Sie anderen Menschen nicht dienen.“ Mich beeindruckt, mit welchem tatkräftigen Glauben die Christen in der Südosttürkei neu aufbauen, was äußerlich heruntergekommen und innerlich zerstreut scheint. Was sind das überhaupt für Christen? Warum nennen sie sich syrisch-orthodox oder auch Aramäer und sind doch Türken? Und was haben wir in Europa mit den Christen im Orient zu tun?

 

 „Heilig bist du, o Gott. Heilig bist du, der Starke. Heilig bist du, der Unsterbliche, der du für uns gekreuzigt worden bist. Erbarme dich unser.“ So singen, beten und sprechen syrisch-orthodoxe Christen. Aramäisch, die Sprache von Jesus und seinen Jüngern. Darum sind Syrisch-Orthodoxe so etwas wie die Urchristen. Für uns in Deutschland klingen ihre Gesänge im Gottesdienst fremd, orientalisch. Und doch kommt das Christentum des Abendlandes von dort: aus dem Südosten der Türkei und aus Syrien. Von Jerusalem aus hat sich der Glaube an Jesus Christus zuerst nach Damaskus und Antiochien ausgebreitet, dem heutigen Antakya in der Türkei. Von dort brach der Apostel Paulus zu seinen Missionsreisen bis nach Europa auf. „Ich bin ein Aramäer“, sagen syrisch-orthodoxe Christen noch heute von sich. Die Aramäer, ein uraltes Kulturvolk, das es schon zu Zeiten des Alten Testaments gab. Im fünften Buch Mose sagt das biblische Volk Israel von sich: „Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk.“ (5. Mose 26,5) Bibelwissenschaftler bezeichnen diesen Satz als eine „Kurzformel des Glaubens Israels“. Die Israeliten damals waren schon lange sesshaft, wohnten in festen Häusern und bestellten ihre Felder. Trotzdem sollten sie sich zu jedem Erntedankfest erinnern: Wir stammen von Menschen ab, die heimatlos waren. Wir stammen von Fremdlingen ab. Wir waren eine Minderheit und doch hat Gott uns geholfen, dass wir nicht untergehen.

„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe.“ Diese Erfahrung machen aramäische Christen auch heute. Viele befürchten, dass es bald keine Christen mehr im Südosten der Türkei, in Syrien, im Irak geben wird, weil sie in den Konflikten umkommen oder vor dem Terror in ihren Ländern fliehen. Viele sind schon ausgewandert. Augin Yalçın ist einer von ihnen. Er kommt aus dem Südosten der Türkei und ist in Deutschland aufgewachsen.

 

„Die Sonne der syrischen Tradition, der Christen aus diesem Gebiet, wird hier nicht untergehen. Aber ich bin ganz großer Hoffnung, dass diese Sonne in Europa aufgehen wird und dass diese Kirche, die hier gerade Exodus erlebt, ein Licht wird auch für die anderen Christen in Europa, für die Schwesterkirchen.“

 

Große Worte. Es braucht große Worte, einen starken Glauben und inneren Halt, wenn man immer wieder erlebt hat, dass die eigene Existenz bedroht ist. Irgendwann geht die Kraft aus, zerstörte Dörfer und Häuser wieder aufzubauen und von neuem Kontakte zu knüpfen, damit man in Frieden miteinander leben kann. Stark ist die Hoffnung des christlichen Glaubens an Auferstehung und an Gottes Macht, selbst den Tod in neues Leben zu verwandeln.

 

„Nicht wir tragen die Wurzel, sondern die Wurzel trägt uns. Und die Wurzel des Christentums ist auch im Tur Abdin verwurzelt, tief, fest in diesen ganzen Feldern und die Hoffnung ist ganz groß. Und es werden in der Zukunft große Früchte getragen werden und die Hoffnung durch die Auferstehung Christi ist allgegenwärtig, jeden Sonntag da.“

 

„Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, ein Fremdling“, so heißt die Glaubensformel aus dem Alten Testament. Ich lebe in Deutschland gut und sicher. Die Bibel erinnert mich daran: Es könnte auch ganz anders sein. Nichts, was ich habe und bin, ist sicher. Es könnte von heute auf morgen alles weg sein. Vielleicht lösen Flüchtlinge deshalb bei manchen Einheimischen Unsicherheit oder sogar Abwehr aus. Sie bringen unangenehm nahe, dass es mir auch so gehen könnte. Sie bringen aber auch nahe, wie stark die Hoffnung sein kann. Als Christ in Europa bin ich beeindruckt, wie der Glaube Heimat gibt, auch wenn man selbst heimatlos geworden ist. Die Christen aus dem Nahen Osten erinnern die Christen in aller Welt an den Ursprung ihres Glaubens. Das Vaterunser, das Gebet Jesu, das alle Christen miteinander verbindet, sprechen sie auf Aramäisch, in der Sprache Jesu:

               

[ Vaterunser auf Aramäisch ]